Oscar-Preisträgerin

Tilda Swinton: "Kämpfen, dass uns die Magie des Kinos nicht verloren geht"

3.5.2022, 12:35 Uhr
Tilda Swinton:

© Sandro Kopp/Port au Prince Pictures/dpa

Aufs Internat ging sie gemeinsam mit Lady Di, in den Achtzigern stand sie für filmische Experimente von Künstlern wie Derek Jarman oder Christoph Schlingensief vor der Kamera und spätestens mit dem Oscar für "Michael Clayton" kam auch der Mainstream-Erfolg dazu. Doch damit sind Leben und Karriere von Tilda Swinton noch lange nicht hinlänglich umrissen, schließlich lag die 61-jährige Britin auch schon in Glaskästen schlafend im Museum, trat in Videos von David Bowie auf oder gründete eigene kleine Filmfestivals.

Ganz zu schweigen davon, dass sie als Schauspielerin immer wieder in den spannendsten Filmen auftritt, von "The Beach" und "Burn After Reading" über "We Need to Talk About Kevin" und "Only Lovers Left Alive" bis hin zu "Snowpiercer" und "The Grand Budapest Hotel". Vergangenes Jahr war sie in Pedro Almodóvars "The Human Voice" (zu sehen bei Prime Video) und "The French Dispatch" von Wes Anderson (verfügbar bei Disney+) zu sehen, nun meldet sie sich mit "Memoria" auf der Leinwand zurück. Der Film des schwulen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul läuft ab dem 5.5. im Kino und ab dem 5.8. exklusiv bei MUBI.

Ms. Swinton, der Regisseur Apichatpong Weerasethakul hat bislang nur Filme in seiner thailändischen Heimat gedreht. "Memoria" ist nun seine erste Zusammenarbeit mit westlichen Schauspieler*innen wie Ihnen. Wie leicht fiel es Ihnen, Teil seiner künstlerischen Welt zu werden?

Tilda Swinton: Interessantes Bild, das Sie da zeichnen, aber darin erkenne ich mich nicht wieder. Was schon mal damit anfängt, dass ich mich selbst nicht in erster Linie als "westliche Schriftstellerin" fühle. Aber Joe, wie er ja von Freund*en genannt wird, und seine künstlerische Welt fühlen sich für mich auch nicht fremd an. Ich fühlte mich ihm schon verbunden, als ich vor vielen Jahren erstmals seine Arbeit sah; später wurden wir Freunde und fingen schließlich an, zusammenzuarbeiten. Denn schon vor "Memoria" haben wir bei verschiedenen Kunstwerken kollaboriert. Jedenfalls fühlt es sich an, als seien wir Brüder im Geiste, wir haben das gleiche Empfinden für Kunst und teilen die gleiche Kultur, nämlich die des Kinos.

Wie lange sind Sie beide denn schon befreundet?

Swinton: Unsere Wege kreuzten sich das erste Mal 2004, da saß ich in Cannes in der Jury und er zeigte dort seinen Film "Tropical Malady". Ich bewunderte seine Arbeit sehr, und zwischen uns entstand eine Email-Freundschaft. Irgendwann kuratierten wir gemeinsam ein Festival und kollaborierten bei einer Veranstaltung in Doha, und immer wieder sprachen wir über Ideen, aus denen letztlich "Memoria" erwuchs. Ich kam also nicht als Außenseiterin zu diesem Projekt, sondern wir haben es von Anfang an gemeinsam entwickelt.

Diese enge, familiäre künstlerische Zusammenarbeit erinnert mich immer wieder an meine früheren Arbeiten mit meinem guten Freund Derek Jarman. Zu schade, dass er und Joe sich nicht kennen lernen konnten. Die Filme der beiden sind höchst unterschiedlich, keine Frage. Aber in ihrer Annäherung an ihre Kunst und ihrem Feinsinn sind sich beide wirklich ähnlich.

Mit Jarman begannen Sie Ihre Karriere, bis zu seinem AIDS-Tod 1994 arbeiteten Sie immer wieder zusammen. Suchen Sie seither immer wieder nach ähnlich engen künstlerischen Beziehungen?

Swinton: Die neun Jahre mit Derek haben mich enorm geprägt und verwöhnt; eine bessere Ausbildung hätte ich in Sachen Film nicht genießen können. Als er dann starb, dachte ich zunächst, das sei es jetzt gewesen. Ich war mir sicher, dass die Sache mit dem Kino und mir ohne ihn vorbei sei, obwohl ich zweimal auch mit anderen Regisseur*innen gedreht hatte, mit Peter Wollen bei "A Friendship's Death" und mit Sally Potter bei "Orlando". Und selbst als sich dann doch Optionen mit neuen Filmemacher*innen ergaben, konnte ich mir nicht vorstellen, nochmal dieses intensive, familiäre Arbeitserlebnis wie mit Derek zu erfahren. Aber ich irrte mich.

Im Laufe der Jahre fand ich meinen Weg in andere Filmfamilien, in die von Wes Anderson oder Jim Jarmusch, Joanna Hogg oder Bong Joon-ho. Auch mit Joe werde ich weiterhin zusammenarbeiten. Dass ich mehr als einmal solche kreativen Wahlverwandtschaften erleben durfte, ist mein großes Glück. Denn wenn ich nicht immer wieder in solchen Kontexten arbeiten könnte, hätte ich diesen Beruf vermutlich längst an den Nagel gehängt.

Wie schnell fühlen Sie sich denn bei solchen künstlerischen Mitstreiter*innen wirklich zuhause?

Swinton: Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich, wie mit allen Freundschaften, aber mit der Zeit hat man schnell ein Gespür dafür, mit wem man gut harmoniert und mit wem nicht. In manchen Fällen kenne ich die Leute ewig, mit denen ich drehe, etwa Joanna Hogg, mit der ich befreundet bin. Joe und ich kennen uns, wie gesagt, auch schon 17 Jahre, Luca Guadagnino sind seit über 20 Jahren Weggefährten. Aber dann gibt es auch Fälle wie Pedro Almodóvar.

Als der mich vor drei Jahren anrief, um einen Kurzfilm zu drehen, kannten wir uns eigentlich kaum, aber weil ich so vertraut war mit seinem Werk, spürte ich trotzdem eine enge Verbindung zu ihm. Gerade habe ich mit Julio Torres einen Film gedreht, der zum ersten Mal überhaupt Regie geführt hat. Doch auch ihn kannte ich zumindest als Comedy-Autor. So ein Minimum an Bezug zu jemandem muss ich schon haben, um mich darauf einzulassen.

Lieben Sie denn alle Ihre Filmfamilien gleichermaßen?

Swinton: Ja, und ich habe Angst vor dem Tag, an dem das für mich zum Problem wird. Denn was mache ich, wenn Joe und Bong und Joanna alle gleichzeitig mit mir drehen wollen? Mich zwischen ihnen entscheiden zu müssen wäre mein Albtraum. Bislang ging das immer glatt, und wir zeitlich immer alles so geregelt bekommen, dass ich in Ruhe von Haus zu Haus wandern konnte, um es mal so auszudrücken.

Die Organisation meines Kalenders ist in meinem Alltag wirklich die größte Herausforderung von allen. Denn natürlich hat man das Timing nicht immer im Griff. Ich vergleiche solche künstlerischen Kollaborationen immer mit der Arbeit eines Gärtners. Man pflanzt hier ein paar Rosen, dort ein paar Tulpen und auch noch einige Drillingsblumen – und dann wartet man. Aus mancher Blumenzwiebel wird nie etwas, andere Pflanzen brauchen – so wie zum Beispiel Guadagninos "Suspiria"-Projekt – 25 Jahre. Und mitunter geht es auch mal viel schneller als erwartet.

Um noch einmal auf "Memoria" zurückzukehren: Sind Sie denn letztlich dafür verantwortlich, dass Weerasethakul nun erstmals außerhalb von Thailand gedreht hat?

Swinton: Ich hatte zumindest von Anfang an gesagt, dass ich mir nicht wirklich vorstellen kann, wie ich auf stimmige Weise Teil seiner thailändischen Szenerie werden könnte. Und auch Joe hatte kein Interesse daran, mich als Fremdkörper in dieser Welt zu inszenieren. Er wollte nicht, dass ich "die Andere" bin, sondern dass wir auf Augenhöhe miteinander arbeiten. So entstand die Idee, dass wir irgendwo drehen, wo wir beide fremd sind. Und so landeten wir letztlich in Kolumbien.

Steckt in der Figur, die Sie nun verkörpern, eigentlich auch etwas von Ihnen? Oder denken Sie nicht in solchen Kategorien über Ihre Rollen nach?

Swinton: Es gibt zumindest Elemente, die ich konkret mit eingebracht habe. Die Schlaflosigkeit dieser Frau habe ich, genau wie übrigens auch Joe, schon selbst erlebt. Ich weiß, in welchen seltsamen Zustand man gerät, wenn man zwei Wochen lang eigentlich nicht schläft. Das fühlt sich fast an wie eine Art Drogentrip. Bei mir war das damals eine Nebenerscheinung von Trauer, eine Reaktion auf den Tod meiner Eltern. Deswegen verarbeitet nun auch die Figur in "Memoria" einen Verlust und ringt mit diesem Gefühl der Entwurzelung.

Diese Trauer-Erfahrung als Schwebezustand hat mich selbst sehr geprägt. Ich weiß noch, wie meine Mutter im Sterben lag und Luca Guadagnino mit mir "A Bigger Splash" drehen wollte. Eigentlich wollte ich in dem Jahr keinen Film machen, aber er konnte mich überreden, weil ich Lust darauf hatte, Zeit mit ihm und dem Team zu verbringen. Meine Bedingung war nur, dass ich still sein kann, denn damals konnte ich nicht sprechen und wollte nichts sagen. Also verwandelten wir die Rolle von einer Schauspielerin in eine Rocksängerin nach einer Stimmbandoperation.

Eine letzte Frage noch mit Blick auf die Zukunft: Sind die Tage des Kinos gezählt? Es gibt Filmemacher wie Peter Greenaway oder Jean-Luc Godard, die jetzt schon sagen, das Kino sei tot...

Swinton: Nichts gegen Greenaway oder Godard, aber wenn die so etwas sagen, ist das natürlich als Provokation gedacht. Und nicht nur falsch, sondern auch fahrlässig, weil Journalist*innen wie Sie das sofort aufgreifen, und am Ende vielleicht ein Teil des Publikums denkt: Ach, wenn das Kino eh tot ist, dann kann ich auch gleich zuhause bleiben und Netflix gucken. Gegen solch eine Haltung müssen wir ankämpfen.

Ich habe im ersten Lockdown 2020 mal wieder die dicke Autobiografie des Regisseurs Michael Powell gelesen, dessen Karriere parallel verlief zur Geschichte des Kinos. Er beschreibt die Ankunft des Tonfilms als große Katastrophe: Kinos machten zu, Studios schlossen, Leute verloren ihre Jobs, Karrieren gingen den Bach herunter. Aber siehe da: Das Kino und die Branche passten sich an, veränderten sich und bald ging es wieder aufwärts. So war es dann auch als der Farbfilm erfunden wurde, als das Fernsehen Einzug hielt, Videokassetten eingeführt wurden und so weiter.

Veränderungen zulassen, aber dafür kämpfen, dass uns die Magie des Kinos nicht verloren geht – das ist auch heute angesagt. Und ich bin optimistisch, dass uns das gelingt. Nicht zuletzt, dank der Regisseur*innen, mit denen ich arbeite. Leute wie George Miller, Bong Joon-ho, Pedro Almodóvar, Joanna Hogg oder eben Joe drehen Filme für die Leinwand, nicht für kleine Bildschirme. Ihre Arbeiten gehören ins Kino, selbst wenn man sie früher oder später auch mal bei einem Streamingdienst sehen kann.

Interview: Patrick Heidmann, Mitarbeit: Pamela Jahn

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