Mit Stoffkapuze und Platz für Vier

Mercedes AMG-SL: Roadster-Ikone runderneuert

21.1.2022, 13:10 Uhr
Mercedes AMG-SL: Roadster-Ikone runderneuert

© Hersteller

Herbert von Karajan fuhr einen, Gerd Müller und Prinzessin Diana ebenso, und dass der schwarze SL 190 der anno 1957 gemeuchelten Edel-Prostituierten Rosemarie Nitribitt auch als „Nitribitt-Mercedes“ in die Geschichte einging, dürfte Mercedes aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte nicht mehr als Imageschaden bewerten.

Die Historie des SL begann 1952, „Sport Leicht“ bedeutete das Kürzel. Überlebt hat die Ikone auf Rädern bis heute, den Legendenstatus hat sie sich über 70 Jahre hinweg bewahrt. Selbst das anbrechende Elektro-Zeitalter manifestiert keine Götterdämmerung. In Gestalt einer neuen, intern R 232 genannten Generation ist dem SL eine Zukunft vergönnt, zumindest vorerst noch.

Kommt aus dem Sportstudio

Allerdings hat Mercedes, wo man sich die Elektrifizierung ebenso explizit wie publikumswirksam auf die Fahnen geschrieben hat, die Entwicklung des neuen SL der Performance-Tochter AMG aus Affalterbach überantwortet. Als „große Ehre“ betrachte man das, sagt Entwicklungschef Jochen Hermann, und merkt an, dass man „bei null beginnen“ konnte.

Denn im Vergleich zu den beiden Vorgängern, an denen ambitionierte Piloten einen Mangel an Fahrdynamik beklagt hatten und deren Verkaufszahlen in Deutschland wenigstens nach Mercedes-Maßstäben auf ein unwürdiges Level gesunken waren, sollte die AMG-Expertise den SL wieder auf das trimmen, wofür er anfangs erschaffen wurde: Dezidierte Sportlichkeit bis hin zur Rennstrecken-Kompetenz.

Mercedes AMG-SL: Roadster-Ikone runderneuert

© Daimler AG

Auch in anderer Hinsicht besinnt sich der SL auf klassische Tugenden: Das zuletzt verbaute Hardtop weicht einer Stoffkapuze, die binnen 15 Sekunden öffnet und schließt, auch während der Fahrt und da bis zu einer Geschwindigkeit von 60 km/h. Die bauliche Veränderung spart 21 Kilogramm Gewicht und generiert, des Z-förmigen Faltkonstrukts wegen, mehr Kofferraum, konkret 213 bis 240 Liter. Vor allem passt die neue Haube besser zum wohlproportionierten Roadster-Kleid mit der langen Motorhaube, dem AMG-typischen Panamericana-Kühlergrill und dem sportlich modellierten Heck, das eine vierflutige Auspuffanlage ziert und wo ab Tempo 80 ein Heckspoiler emporsurrt, abhängig vom Fahrzustand in fünf Stufen.

2+2-Sitzer mit Rückbank

Unter dem Outfit verbirgt sich ein in leichter Verbundaluminium-Struktur konstruiertes Chassis, selbsttragend und die Voraussetzung für die angestrebte Fahrdynamik. Neu ist auch, dass der SL nunmehr als 2+2-Sitzer auftritt. Der Fond ist zwar nur als Aufenthaltsort für bis zu 1,50 Meter große Mitfahrer vorgesehen. Für Kinder passt das aber allemal, selbst Isofix-Befestigungen sind vorhanden. Alternativ findet leichtes Gepäck auf der Hinterbank seinen Platz, ein Plus an Praxistauglichkeit mithin.

Von puristischem Roadster-Minimalismus kann im Interieur nicht die Rede sein. Luxus bestimmt das Ambiente und eine Kombination aus großformatigem Fahrerdisplay sowie senkrecht installiertem XL-Touchscreen die Szenerie. Ästhetisch wie ergonomisch ist das überaus befriedigend, und dank des exzellenten MBUX-Infotainments mitsamt dem feinen Ohr der Sprachassistentin schafft der SL auch in Sachen Konnektivität den Sprung in die Topmoderne. Last but not least trägt er dem wechselvoll einfallenden Sonnenlicht Rechnung: Der Neigungswinkel des berührungssensitiven Bildschirms ist elektrisch verstellbar. Und an kühlen Tagen legt sich der warme Luftstrom des „Airscarf“ um Nacken und Schultern.

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Natürlich kann und muss man darüber diskutieren, ob es im Zeichen von Klimawandel und CO2-Not tatsächlich zeitgemäß ist, dass der SL antriebstechnisch auf jegliche Elektrifizierung beziehungsweise Hybridisierung verzichtet. Schon aufgrund seines ambitionierten Preises ist der Edel-Roadster freilich kein Massenprodukt, und dank seines Status als Klassiker kann er wohl auf Nachsicht zählen. Die meisten Exemplare wandern aus Affalterbach in die USA aus, dort wird man sich über den Achtzylinder unter der Haube freuen und ihn der Roadster-Ikone bereitwilliger zugestehen als im empfindlicher gewordenen Europa. Der Vierliter-V8-Biturbo hat sich in Diensten von AMG bereits bewährt, er arbeitet im Team mit einer aufs Feinste schaltenden 9-G-Automatik und steht in zwei Ausbaustufen bereit. „Klein“ heißt bei AMG 350 kW/476 PS und 700 Newtonmeter Drehmoment, bereitgestellt im SL 55 4Matic+. Der SL 63 4Matic+ packt da noch was drauf und stellt 430 kW/585 PS und mächtige 800 Newtonmeter bereit.

Wenn überhaupt, wird man die daraus resultierenden Fahrleistungen wird nur auf der Rennstrecke ausreizen wollen: Von 0 auf 100 in 3,6 Sekunden, Topspeed 315 km/h. Auch was der 55er kann, ist in seiner letzten Konsequenz nicht mit den Bedingungen des öffentlichen Verkehrsraums kompatibel – 295 km/h Spitze plus 3,9 Sekunden für den Standardsprint.

Erstmals mit Allradantrieb

Erstmals in seiner Geschichte bekommt der SL Allradantrieb, permanent und mit vollvariabler Momentenverteilung. Dazu spendiert AMG, ebenfalls serienmäßig, eine Hinterachslenkung. Dem potenziellen Dasein am physikalischen Limit stellt sich der Roadster außerdem mit einer Raumlenker-Verbundachse und einer AMG-Hochleistungs-Verbundbremsanlage, auf Wunsch gibt es extrabissige Keramikbremsscheiben. Speziell dem SL 63 beschert man das Aktivfahrwerk mit hydraulischer Wankstabilisierung, Hydraulikelemente ersetzen hier die üblichen mechanischen Querstabilisatoren.

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© Hersteller

So viel zur Theorie. Jetzt zur Praxis. Und zur Frage, wie sich das geballte technologische Aufgebot auszahlt. Antwort: In eindrucksvollem Maß. Der SL ist tatsächlich ein ebenso leistungsfähiger wie fahrtechnisch belastbarer Sportartikel geworden. Mit unaufdringlichem, aber dennoch präsentem Wohklang erhebt der V8 seine Stimme, schiebt den SL machtvoll voran, wobei es – ja – eine wimpernschlagkurze Turbo-Gedenksekunde zu konstatieren gibt. Extrem handlich und präzise fährt sich der AMG-Roadster, bleibt bestens beherrschbar, der Grenzbereich – wir haben es im Straßenverkehr nicht ausgetestet – ist offenkundig hoch angesiedelt und dürfte jenseits der Mutgrenze der meisten Fahrer liegen.

Kann auch Cruiser

Sechs Fahrprogramme erlauben charakterliches Feintuning, wobei der Race-Modus – enthalten im optionalen AMG-Dynamic-Plus-Paket - eine Exportion Schärfe liefert und, nur versierten Piloten zu empfehlen, das ESP in die Pause schickt. Gleichzeitig macht der SL aber auch als gepflegter Cruiser das Leben leicht, große und kleine Nickligkeiten bügelt er beim Flanieren feinfühlig aus.

Was der offene Sportler kosten soll, steht noch in den (Mercedes-)Sternen. Teuer und nur für die wenigsten erschwinglich wird es aber allemal: Unter 160.000 Euro für den SL 55 und 190.000 Euro für den SL 63 wird es aber wohl nicht abgehen.

Wer den Platz an der Sonne günstiger haben möchte, sollte noch etwas abwarten. Ein Vierzylinder dürfte ziemlich sicher kommen. Und bereits gesetzt ist der „Performance-Hybridantrieb“. Der Elektrifizierung ganz verschließen kann sich also auch eine Ikone nicht.

Mercedes-AMG SL:

Wann er kommt: Im Frühjahr 2022

Wen er ins Visier nimmt: Jaguar F-Type Cabrio, Porsche 911 Turbo Cabrio

Was ihn antreibt: Vierliter-V8-Biturbo-Benziner mit 350 kW/476 PS oder 430 kW/585 PS

Was er kostet: Noch nicht bekannt

Was noch folgt: „Performance-Hybrid“, wahrscheinlich ein Vierzylinder, eventuell Sechszylinder

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