Nachschub für Zuhälter

Wie ein Loverboy eine junge Frau gezielt in die Zwangsprostitution trieb

Lena Wölki

Politik und Wirtschaft

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31.5.2022, 11:01 Uhr
Die Frauentormauer ist Nürnbergs Rotlichtviertel. Über das, was Frauen dort erleben müssen, sagt Sandra Norak: "Irgendwann verliert man sein Selbstwertgefühl komplett."

© Roland Fengler Die Frauentormauer ist Nürnbergs Rotlichtviertel. Über das, was Frauen dort erleben müssen, sagt Sandra Norak: "Irgendwann verliert man sein Selbstwertgefühl komplett."

Für ihren späteren Zuhälter ist die junge Frau das perfekte Opfer. Ihre Mutter ist psychisch krank, sie selbst magersüchtig. Sie hat kaum Freunde, mit denen sie über ihre Probleme reden könnte. Den Schmerz darüber und über die Ausbrüche ihrer Mutter versucht sie schlussendlich mit Selbstverletzungen zu kompensieren – zu diesem Zeitpunkt ist sie nicht mal 16 Jahre alt.

Sandra Noraks Jugend (der Nachname ist ein selbstgewähltes Pseudonym) würde in keinem Bilderbuch auftauchen. Mittags, nach dem Unterricht, flüchtet sie sich ins Internet. Ein anonymer Ort, an dem sie hofft, Kontakte knüpfen zu können. Und das gelingt sogar. Doch dieser Kontakt wird sie in ein noch größeres Unglück stürzen: Zwangsprostitution.

Sechs schreckliche Jahre verbringt sie im Rotlichtmilieu – schafft auch in Nürnberg an. Erst dann gelingt ihr der Ausstieg. Heute ist sie über 30 und möchte anderen Frauen helfen. Denn Norak ist überzeugt: "Wirklich selbstgewählte und selbstbestimmte Prostitution ist die absolute Ausnahme."

Mit ihrer Aufklärungsarbeit will sie verhindern, dass Mädchen auf dieselben hinterhältigen Maschen stoßen wie sie damals: Die Frau, die sie als 16-Jährige in einem Chatforum kennen lernt, gibt ihr das Gefühl, ihre Freundin zu sein, sie hört zu, wenn die Jugendliche über die schwierige Situation in ihrem Elternhaus spricht. Was das Mädchen zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Die vermeintliche Freundin ist eine Prostituierte und auf der Suche nach neuen Mädchen, die für ihren Zuhälter anschaffen sollen.

"Es ist perfide, dass sie sich gezielt auf die Suche nach labilen Jugendlichen machen, die nur wenige Kontakte und Erfahrung haben", sagt Norak bei "heiß und innig", einem Podcast der Nürnberger Nachrichten. Eine Jugendliche, wie sie selbst eine war – sexuelle Erfahrungen oder einen festen Freund hatte sie noch nicht.

Ihr Schicksal ist kein Einzelfall

Es dauert nicht lange, bis ihre Internetbekanntschaft Sandra einen etwa 20 Jahre älteren Mann vorstellt. Was mit einem harmlosen Onlinekontakt beginnt, endet Monate später im Rotlichtviertel – und für Sandra in einem Albtraum.

Sandra Norak kämpft heute gegen Zwangsprostitution. 

Sandra Norak kämpft heute gegen Zwangsprostitution.  © privat

Ihr Schicksal ist kein Einzelfall, das Vorgehen der Menschenhändler eine verbreitete Masche. Sogenannte "Loverboys" ködern junge Mädchen, die sich häufig in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, indem sie eine Beziehung mit ihnen beginnen. Nach und nach erschleichen sie sich das Vertrauen der oft Minderjährigen, manipulieren sie und sorgen dafür, dass ihre Opfer die Verbindungen zu Freunden und Familie kappen.

Schritt für Schritt machen die "Loverboys" die Mädchen mit dem Rotlichtmilieu vertraut. Bei Sandra Norak ist es zunächst ein harmloser Bordellbesuch: Ihr neuer Freund will dort lediglich mit Kumpels einen Kaffee trinken. Seine Botschaft: Schau, hier ist alles ganz harmlos, lauter nette Menschen.

Das soll Hemmungen vor dem Milieu abbauen. Nach ein paar Wochen oder Monaten erfinden Loverboys dann eine Geschichte, die das Mädchen massiv unter Druck setzt. Im Fall von Sandra Norak gibt der Mann vor, er habe Schulden und brauche dringend Geld. Nur sie könne ihn davor bewahren, in die Kriminalität abzurutschen – indem sie für ihn anschaffe. Nur ein paar Mal, das sei auch gar nicht schlimm.

Doch Sandra Norak zufolge werden die jungen Frauen schon beim ersten Mal "so heftig missbraucht, dass sie traumatisiert und gebrochen sind". Auch wenn sie sich an manche Erlebnisse aus dieser Zeit, schon allein aus Selbstschutz, nur noch verschwommen erinnern kann – das erste Mal mit einem Freier steht ihr noch sehr genau vor Augen. Zunächst hat sie sich gegen den Vorschlag ihres 20 Jahre älteren "festen Freundes" gewehrt, Geld mit Sex zu verdienen. Als der sie aber immer mehr drängt und emotional erpresst, gibt sie nach. "Dieses erste Mal war wirklich sehr schlimm für mich", erinnert sie sich heute.

Vom Flatrate-Bordell bis hin zum High-Class-Escort

Ab diesem Zeitpunkt ist Sandra im Rotlichtmilieu gefangen. Sie wird in den Jahren darauf in verschieden Bordellen sein, teilweise auch wohnen, und bis zu 20 Freier an einem Tag haben. Kontakte hat sie fast nur noch in der Szene – ihr Zuhälter, Leute aus dem Milieu, die Freier, die anderen Frauen.

Vom Flatrate-Bordell bis hin zum High-Class-Escort – im Laufe der Zeit erlebt sie die verschiedensten Seiten der Prostitution. Jahre später ist ihr wichtig zu betonen: "Wenn eine Frau nicht möchte, dass der sexuelle Akt stattfindet, dann ist es ganz egal, ob es auf einer schäbigen Matratze oder einem mit Rosen geschmückten Bett in einem Fünfsternehotel passiert. Am Ende läuft es auf dasselbe hinaus." Missbrauch. Einen finanziellen Unterschied habe es für sie ohnehin nicht gemacht. Ihr Zuhälter nimmt ihr das verdiente Geld über einen langen Zeitraum ab.

Für mehrere Jahre prägt dieser Alltag Sandra Noraks Leben. Die psychische Abhängigkeit, die dabei entsteht, verhindert, dass Frauen diesen Teufelskreis durchbrechen können. "Irgendwann verliert man sein Selbstwertgefühl komplett. Ich hatte das Gefühl, ich würde nie wieder in die andere Welt zurückfinden. Ich dachte, ich wäre wertlos und der Gesellschaft unwürdig", erzählt sie. So ergehe es vielen Frauen dort. Dadurch und durch das Trauma, das die Prostituierten zu einem gewissen Punkt erleiden, werde der Ausstieg immer schwerer.

Für Sandra Norak wird es ein langer Prozess, sich vom Milieu, aber vor allem von dem "Loverboy" zu lösen. Erst als sie einen psychischen Zusammenbruch erleidet und in die Notaufnahme kommt, ändert sich die Situation. Ihre schlechte Verfassung macht sie für ihren Zuhälter nicht mehr lukrativ. Irgendwann lässt er von ihr ab. Trotzdem ist das noch nicht der Moment, in dem sie der Prostitution den Rücken kehrt.

Denn zu diesem Zeitpunkt steht sie mit nichts da. Ohne Wohnung, ohne Job und ohne Freunde. Also nimmt sie weitere Freier an, um sich aus diesem Leben herauszuarbeiten. Die abgebrochene Schule und die Lücke im Lebenslauf machen es ihr zudem schwer, eine Ausbildungsstelle zu finden.

Dann der erste Lichtblick: Sandra bekommt die Zusage für ein Praktikum im Nürnberger Tiergarten. Die Arbeit dort wiederum hilft ihr dabei, eine Stelle als Pferdepflegerin zu ergattern – und somit den Absprung aus der Prostitution zu schaffen.

Heute hat Sandra Norak das Abitur nachgeholt und ein Jurastudium abgeschlossen. Mit diesem Abschluss in der Tasche hat sie viel vor. Sie möchte betroffenen Frauen helfen und Gesetze ändern, um die Frauen im Rotlichtmilieu zu schützen. Ihr Ziel: Ein ähnlicher Zustand wie in Schweden. Dort wurde 1999 erstmals das Nordische Modell eingeführt, das unter anderem ein "Sexkaufverbot" zur Folge hatte. Dabei werden jedoch nur die Freier kriminalisiert, nicht die Prostituierten. Denn, so Norak: "Die Frauen sind die Betroffenen. Die allermeisten sind Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution."

Bordelle würden immer wieder zu Schauplätzen von Kriminalität – und auch die Frauentormauer in Nürnberg sei da keine Ausnahme, sagt Sandra Norak. Deshalb will sie die Männer, die solche Orte aufsuchen, an etwas erinnern: "Dort geschehen Menschenrechtsverbrechen. Und ein Freier beteiligt sich daran." Man könne nie wissen, ob die Frau das freiwillig mache – das sollte sich jeder immer bewusst machen: "Es könnte auch Ihre Tochter sein, die im Bordell sitzen muss, die dort anschaffen muss."


Das komplette Gespräch mit Sandra Norak ist als Podcast in diesem Text verlinkt, Sie hören unseren Podcast "heiß & innig" aber auch auf allen Playern wie Spotify oder unter nordbayern.de/podcast

Mehr Informationen über Sandra Noraks Arbeit findet man im Netz auf sandranorak.com. Außerdem hat sie einen Verbund gegründet, in dem sich Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung organisieren: ge-stac.com.

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