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18. Januar 1972: Ehemänner von den Frauen durch Gitterstäbe getrennt

18.1.2022, 07:00 Uhr
18. Januar 1972: Ehemänner von den Frauen durch Gitterstäbe getrennt

© N.N.

Inzwischen ist das Heim in die Verwaltung des Jugendsozialwerkes übergegangen. Im Bestreben um „Wahrung von Sitte und Anstand“ gleicht heute die Superunterkunft eher einer preußischen Kaserne wilhelminischer Prägung. Strengste Trennung der Geschlechter ist das oberste Gebot. Das gilt für befreundete Pärchen ebenso wie für verheiratete. Sie dürfen, wenn überhaupt, nur im Gemeinschaftsraum im Untergeschoß zusammenkommen. Will man gemeinsam ein selbstbereitetes Menü zu sich nehmen, dann steht für die derzeit 330 – teils Ausländer, teils Deutsche – Heiminsassen lediglich ein 15 Quadratmeter großer Raum im Heizungskeller zur Verfügung. Um alle Bestimmungen einhalten zu können, schreckten die Heimgewaltigen weder vor Vorhängeschlössern an den Schalttafeln der Aufzüge noch vor massiven Eisengittern als Trennung zwischen den Stockwerken der Männer und der Frauen zurück.

Vorbei an der Pförtner-Loge

Überrascht ist der unbeteiligte Betrachter von den technischen Tricks, die sich die Verantwortlichen haben einfallen lassen, damit Männer und Frauen nicht etwa unbeobachtet zusammenkommen können. Die Frauen haben die Stockwerke 1 bis 5 belegt. Sie müssen den Weg – vorbei an der Pförtnerloge – über die Treppen zu Fuß nehmen. Die Männer wohnen in den Stockwerken 6 bis 15. Ihnen stehen die Aufzüge zur Verfügung. Damit sie aber nicht in den Damen-Etagen anhalten, wurden die Wählknöpfe 1 bis 5 im Aufzug mit einem Metallkasten und einem Vorhängeschloß verriegelt. Damit aber die Frauen nicht etwa von ihrem Stockwerk aus den Lift-Rufknopf drücken und einen Mann „abrufen“ können, wurden auch diese Knöpfe mit Schlössern versehen. Vergessen abzuriegeln hat man aber den Nothalteknopf im Lift. Mit ihm gelang es geschickten Männern schon, genau auf einem Damen-Stockwerk anzuhalten. Dann braucht er allerdings einen Mithelfer, der ihn später – ebenfalls per Lift – wieder abholt. Viele der oftmals seltsam anmutenden Bestimmungen würden die Heiminsassen vielleicht klaglos in Kauf nehmen, bliebe ihnen die Geschlechtertrennung in dieser Form nicht so unverständlich. Eheleute und Liebespärchen sind daher gezwungen, an Wochenenden in Stundenhotels überzusiedeln. Und will eine Ehefrau mit ihrem Mann sprechen, ohne gleich in den Keller laufen zu müssen, dann geht dies nur über das Telefon beim Pförtner. Von hier aus kann der Gesprächspartner auf den Gang gerufen werden, wo er von der Gemeinschafts-Sprechanlage aus mit seiner Ehefrau reden kann.

Das strikte Verbot, Besuch auf den Zimmern zu haben, gilt auch für Verwandte. Wenn ein Vater beispielsweise aus Jugoslawien anreist, um seinen Sohn oder seine Tochter zu besuchen, dann müssen sie sich im Gemeinschaftsraum oder im Keller treffen. „Zuwiderhandlungen ziehen unnachsichtlich die Kündigung des Heimplatzes nach sich“, heißt es in der Heimordnung. Die gestrenge Hausordnung stammt von der Firma Grundig und wurde vom Sozialwerk akzeptiert. Hier einige Bestimmungen: „In Absprache mit der Heimleitung darf persönlicher Wandschmuck aufgehängt werden.“ Aber schon im folgenden Absatz heißt es: „Es ist nicht gestattet, Bilder, Bierfilze und ähnliches an die Wände zu kleben oder mit Nägeln oder Reißnägeln anzubringen.“ – „Schlägereien berechtigen ebenfalls zur fristlosen Kündigung, ohne daß die Klärung der Schuldfrage zu erfolgen braucht.“ Gemeint ist die Kündigung des Heimplatzes. Wie allerdings zu erfahren war, geht dieser Rausschmiß nicht selten mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses einher. Von 22 bis 6 Uhr ist strengste Ruhezeit, in der laut Heimordnung weder geduscht noch gekocht noch Radio gehört oder Karten gespielt werden darf. Den Ruf des Heimes soll eine weitere Verordnung garantieren: „Auch Unterhaltungen von Fenster zu Fenster sind nicht erlaubt.“ Aber noch etwas anderes stößt auf die Kritik der Bewohner: „Die Heimleitung hat jederzeit das Recht, Kontrollen in allen Räumen des Hauses vorzunehmen.“ Das sehe in der Praxis so aus, daß oft mitten in der Nacht die Räume kontrolliert würden. Ein Privatleben gebe es nicht. Auch bei längerer Abwesenheit des Heiminsassen ist die Heimleitung berechtigt, Schränke, Spinde und sogar Koffer des „Urlaubers“ zu öffnen und zu durchsuchen.

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