Nürnberger Menschenrechtspreis für Whistleblowerin

Erschütternder Report über Chinas Uiguren-Politik: Sayragul Sauytbay und ihr Buch "Die Kronzeugin"

Isabel Lauer

Lokalredaktion Nürnberg

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8.9.2021, 17:05 Uhr
Tief traumatisiert und bis heute verfolgt: Sayragul Sauytbay, hier mit ihrer Botschaft bei der Vorstellung ihres Enthüllungsbuches 2020 in Deutschland, lebt mit ihrer Familie zurzeit im Asyl in Schweden.

© imago images/Reiner Zensen Tief traumatisiert und bis heute verfolgt: Sayragul Sauytbay, hier mit ihrer Botschaft bei der Vorstellung ihres Enthüllungsbuches 2020 in Deutschland, lebt mit ihrer Familie zurzeit im Asyl in Schweden.

China will den gehorsamen Bürger. So weit, so bekannt. Dass China aber noch viel mehr, nämlich auch den ethnisch gesäuberten Bürger, will und dazu die Unterwerfung der übrigen Welt – wer das behauptet, steht in der Beweispflicht. Mit dem Buch "Die Kronzeugin" (Europa-Verlag) setzt eine Frau die Lebensgeschichte ihrer Familie dafür ein. Die Stadt Nürnberg hat angekündigt, ihr dafür ihren Internationalen Menschenrechtspreis 2021 zu verleihen: Sayragul Sauytbay. Die Zeremonie kann wegen Corona erst im Mai 2022 stattfinden.

Wer ist diese auf Fotos klein aussehende Person, die in Fernsehinterviews so scheinbar gefasst von den faschistischen Abgründen der kommunistischen Diktatur in China redet? Eine "Whistleblowerin", tief traumatisiert. Schlaflos, von Übelkeit geplagt, von Drohanrufen schikaniert. Auch das erzählt sie im Buch, und sie kann nur hoffen, dass sie seelische Linderung im Asyl finden kann, das Schweden ihr mit ihrem Mann und den zwei Kindern seit zwei Jahren gewährt. Ihre Verfolgung, die in vier Monaten Haft in einem staatlichen Straflager gipfelte, hat endloses Leid verursacht.

Aufgelöste Friedhöfe

Sayragul Sauytbay kommt 1976 im früheren Ostturkestan zur Welt – so nennen die nationalen Minderheiten die Autonome Region Xinjiang im Nordwesten Chinas. Mehrheitlich Uiguren leben dort, Sauytbays Eltern sind kasachische Halbnomaden. Ihre Kindheit mit sechs Geschwistern beschreibt sie als glücklich in armen Verhältnissen. Viehwirtschaft und islamische Feste prägen den Dorfalltag. Die sogenannten ethnischen Kasachen sind Muslime, praktizieren ihren Glauben vermischt mit naturreligiösen Elementen. Heute ist ihnen das im Zuge der politischen Umerziehung verboten. Selbst ihre Friedhöfe hat die Kommunistische Partei auflösen lassen. Husseins werden in Wu umbenannt. Kindergartenkindern wird, einprägsames Detail im Buch, der Mund mit Klebeband verschlossen, wenn sie ihre Muttersprache anstatt Chinesisch verwenden.

Sayragul studiert Medizin, arbeitet als Ärztin in einem Provinzkrankenhaus, sattelt später zur Lehrerin und Kindergartenleiterin um. Was sie von allen bisherigen Nürnberger Menschenrechtspreisträgern unterscheidet: Die heute 44-Jährige tritt zunächst gar nicht als Aktivistin in Erscheinung, sondern in erster Linie als Willküropfer staatlicher Verfolgung. In ihrem Fall paradoxerweise als Beamtin eben dieses Staates. Erst das Gerichtsverfahren um ihre Auslieferung aus Kasachstan, wohin ihr die Flucht gelungen war, machte sie plötzlich zur Person des öffentlichen Lebens, verstärkt durch die Hilfsorganisation Atajurt, die Fälle wie ihren vertritt.

2020 brachte Sauytbay ihr Buch heraus – zuerst in Deutschland, basierend auf Interviews mit der Journalistin Alexandra Cavelius. Unter dem Anderssein hatten die Minderheiten schon vor Gründung der Volksrepublik prinzipiell immer zu leiden. Auch nach Maos mörderischer "Kulturrevolution" trafen Enteignungen, Landraub und kulturelle Ächtung sie mal mehr, mal weniger. Doch nach der Jahrtausendwende wurde der Wind der Zwangskollektivierung eisig, beschreibt Sauytbay. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung betreibe China einen geheimen Vernichtungskrieg im eigenen Land. "Es geht um das gezielte Auslöschen eines ganzen Volkes." Damit hat sie die Unterstützung der US-Regierung, die noch unter Donald Trump als Erste von einem Genozid in Xinjiang sprach.

Sayragul Sauytbay erleidet das Schicksal zigtausender Uiguren und Kasachen: Totalüberwachung, Verhöre, Hausarrest, Versklavung an chinesische Haushalte. Während ihr Mann mit den Kindern noch Zuflucht in Kasachstan nehmen kann, verweigert man ihr die Ausreise. Ende 2017 sperrt man sie wegen ihrer Herkunft in eines der Lager in der Region Mongolkure, ein teils unterirdisches, mehrgeschossiges Gebäude. Als Akademikerin hat sie eine privilegierte Position: Sie bekommt eine Einzelzelle und soll beim täglichem Unterricht Häftlinge politisch indoktrinieren. "Halbtote" sitzen da vor ihr, die Hände und Füße in Ketten.

Warnung vor der Eroberung Europas

Ihre Berichtspassagen aus dem Lager sind selbst für abgehärtete Leser schwer zu verdauen. "Solche Schreie hatte ich noch nie zuvor vernommen. Solche Schreie vergisst man sein ganzes Leben lang nicht mehr", erinnert sie sich an die nächtlichen Geräusche aus der Folterkammer "schwarzer Raum". Auch sie wird in dem Raum mit Strom gefoltert. Hinweise auf medikamentöse Sterilisierung und Vergewaltigung der weiblichen Häftlinge bekommt Sauytbay in den fünf Monaten zuhauf. Immer wieder verschwinden Menschen über Nacht.

In der Millionenstadt Ürümqi verfügt die muslimische Minderheit, vor allem der Uiguren, über eine Reihe von Moscheen. Hier die Erdao-Bridge-Moschee am Großen Basar im Herzen der Stadt.

In der Millionenstadt Ürümqi verfügt die muslimische Minderheit, vor allem der Uiguren, über eine Reihe von Moscheen. Hier die Erdao-Bridge-Moschee am Großen Basar im Herzen der Stadt. © Wolfgang Heilig-Achneck

Mit ihrer Veröffentlichung redet diese Kronzeugin freilich auch der Weltgemeinschaft ins Gewissen. Nur die internationale Aufmerksamkeit könne die Hölle in Xinjiang beenden. Aber was ist eigentlich die Haltung des Westens zu diesem verblüffend "brutalen und primitiven" Handelspartner für den Krimskrams im Ein-Euro-Shop? Namentlich erwähnt Sauytbay Siemens, Bosch, Adidas, Microsoft und Lacoste, die entweder durch Sklavenarbeit oder Zulieferung von Infrastruktur das Lagersystem stützten. Und warum schreitet die islamische Welt nicht ein?

Der schrillste ihrer Kassandra-Rufe aber warnt vor der Zukunft. "Das Reich der Mitte (...) nutzt die Möglichkeiten der offenen Gesellschaft, um Stück für Stück die Demokratien zu untergraben", so ihre Diagnose. Der Handel mit Massenprodukten, Hightech und die "Neue Seidenstraße" seien Chinas Brücke zur angestrebten Weltherrschaft. Einen Drei-Stufen-Plan, der für 2035 bis 2055 die Besetzung Europas vorsieht, haben ihr die Funktionäre im Lager schwarz auf weiß gezeigt – und dann das Papier verbrannt, weil es keine Beweisstücke geben darf.

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