Unberechenbare Täter

Messerattacke im ICE: "Psycho-Tat" - Erinnerung an Würzburg

18.11.2021, 14:34 Uhr
Messerattacke im ICE: "Psycho-Tat" - Erinnerung an Würzburg

© Wolfgang Fellner, NNZ Messerattacke im ICE: "Psycho-Tat" - Erinnerung an Würzburg

Schon wieder. Ein Amoklauf, ein islamistisches Attentat - die Tat eines Wahnhaften? Oder kommt alles zusammen? Die Frage stellt sich nicht zum ersten Mal. Samstag morgen, 9 Uhr, im ICE 928 von Passau nach Hamburg, plötzlich zückte ein Mann ein Messer. "Ich habe nur das Geschrei gehört, Leute rannten durch den Großraum-Waggon", schilderte Wolfgang Kamman (77) an jenem Tag einem Redakteur unserer Zeitung vor Ort. Kamman wollte am 8. November mit einer Gruppe das Zukunftsmuseum in Nürnberg besuchen. Doch plötzlich herrschte Panik.

Vier Männer verletzt

"Dass so etwas bei uns passiert", sagte Landrat Willibald Gailler (CSU) am Tag danach. "Der ICE hat mit Seubersdorf eigentlich nichts zu tun, außer, dass er durchrollt", stellt auch Bürgermeister Eduard Meier (CSU) fest. Am Bahnhof der 5000-Einwohner-Gemeinde mussten aus dem ICE 300 Menschen evakuiert werden. Der Angreifer hatte vier Männer im Alter von 26, 39 und zwei von 60 Jahren mit Stichwunden an Kopf und Oberkörper teils schwer verletzt.

"Die Drecksau gleich mit aufhängen"

Die Gründe, dass einige Verbrechen für besonderes Aufsehen sorgen, können vielfältig sein. Manchmal sind die Taten ausgesprochen brutal. Manchmal sind die Opfer besonders schutzbedürftig und lösen großes Mitgefühl aus. Und manchmal erschüttert eine Tat das Sicherheitsgefühl der ganzen Bevölkerung, da sie an einem Ort geschah, an dem es jeden treffen kann.

Ist der öffentlicher Raum nicht mehr sicher?

Am 6. November fühlte es sich an, als sei man im öffentlichen Raum nicht mehr sicher. Und der Verdächtige ist ein Geflüchteter aus Syrien, 27 Jahre alt. Schon deshalb erreichte der Angriff sofort die Politik. Dazu gibt es Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Täters. Als der Nürnberger Anwalt Maximilian Bär als Pflichtverteidiger bestellt wurde, rechnete er mit Empörung. Denn die Umstände erinnerten ihn an Würzburg: am 25. Juni 2021 hatte ein Attentäter in einem Kaufhaus auf eine Verkäuferin eingestochen und zwei weitere Frauen attackiert. Alle drei starben. In einer nahen Sparkasse und auf der Straße griff er weitere Frauen und einen kleinen Jungen an.

Die Verteidigung des Tatverdächtigen, einem Somalier (24), hat Hans-Jochen Schrepfer übernommen. Und während die Strafverfolgungsbehörden noch zögerten, ob Terroranschlag oder Amoklauf das richtige Wort für das entsetzliche Blutbad sei und Psychiater versuchten, herauszufinden, was den Täter trieb, musste sich Jurist Schrepfer beschimpfen lassen. Weil er "so einen" verteidigt, kündigte eine seiner Angestellten – und selbst ernannte "Facebook-Experten" hielten es einmal mehr für angebracht, brutale "Ratschläge" zu geben, wie der Tatverdächtige zu behandeln sei.

Anwälte: durch die Hintertür in das Gerichtsgebäude

Neu ist dies alles nicht. Es gibt Anwälte, die sich in den Nürnberger Justizpalast bereits durch die Hintertür schlichen – weil sie sich vor der Lynchstimmung fürchteten. Andere bekommen Drohbriefe. "Am besten die Drecksau gleich mit aufhängen", war das Heftigste, was Rechtsanwalt Alexander Seifert, er betreibt seine Kanzlei gemeinsam mit Maximilian Bär, bislang zu hören bekam. Damals verteidigte er Eltern, die ihren Sohn getötet hatten. Vor dem Gericht demonstrierte damals die Bevölkerung. Die Anwälte bekamen aus Sicherheitsgründen einen Parkplatz im Inneren des Gebäudes, betraten das Gericht durch einen hinteren Eingang und durften für die Dauer des Prozesses einen separaten Aufzug nutzen.

Fast so schlimm wie Verbrecher: Verteidiger

"Wir verteidigen den Täter, nicht die Tat", lautet ein alter Grundsatz der Strafverteidiger – und doch können sie alle ein Lied davon singen, wie es ist, wenn sie sich selbst in ihrem Freundeskreis rechtfertigen müssen, weil sie einen Beruf ausüben, der fast so schlimm ist wie Verbrecher: Verteidiger.

Das gesellschaftliche Klima ist härter geworden. In den 80er Jahren hatten sozialpädagogische Erklärungen Hochkonjunktur, heute will die Gesellschaft Sicherheit; wer von Resozialisierung spricht, gilt zunehmend als naiv. Dabei sank die Zahl der erfassten Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik in den letzten 30 Jahren insgesamt um etwa 20 Prozent, auch weil unsere Gesellschaft altert.

Kaufhausdetektiv bezeugt "Allahu akbar"-Rufe

Und die Kriminalität von Geflüchteten? Das Bundeskriminalamt hält für 2020 fest, dass der Anteil von Migranten bei Straftaten "gegen das Leben" bei 12,6 Prozent aller Tatverdächtigen liegt, vielfach sind auch die Geschädigten Zuwanderer.

Doch Terror und Wahn erschrecken. In Würzburg prüften die Ermittler islamistische Beweggründe, ein Kaufhausdetektiv als Zeuge schilderte "Allahu-akbar"-Rufe. In ersten Medienberichten wurde behauptet, dass in der Wohnung des Verdächtigen IS-Propagandamaterial gefunden wurde. Dies musste später, da unzutreffend, korrigiert werden.

Nun teilte die Generalstaatsanwaltschaft München gerade mit, dass bei dem verdächtigen ICE-Attentäter Videos der IS-Terrororganisation entdeckt wurden, dazu auffällige Inhalte auf seinem Facebook-Account. "Daraus Erkenntnisse abzuleiten, ist viel zu früh", kommentiert Maximilian Bär. "Wir wissen ja noch nicht einmal, ob ihm Propaganda-Videos zugeschickt wurden – oder ob er sie selbst verbreitet hat." Und doch sorgt der Fund sofort für Schlagzeilen. Das Bedürfnis, diese Attacken einzuordnen, ist groß. Schließlich sollen ideologische Motive nicht kleingeredet, gleichzeitig Taten von psychisch Kranken nicht politisch missbraucht werden.

Kann einer Islamist und gleichzeitig psychisch krank sein? Geht es nach der Generalstaatsanwaltschaft München, wird der Würzburger Täter dauerhaft in die Forensik eingewiesen. Zwei Gutachter halten ihn für schuldunfähig. Der Mann war schon früher in der Psychiatrie. War er – unbemerkt – erneut in eine psychologische Krisensituation geraten?

Unbemerkt in die Krise geraten?

Schon lange tritt der Bund Deutscher Kriminalbeamter für den Ausbau der Psychiatrie ein. Auch wenn laut Studien 95 Prozent der psychisch Erkrankten gewaltfrei leben, sei der Fachkräftemangel in der Psychiatrie ein Sicherheitsproblem.

Dies passt zu Erkenntnissen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Die Beratungsstelle "Radikalisierung" erklärt, dass "zumindest Einzeltäter im Kontext extremistischer Gewalttaten deutlich häufiger psychische Störungen zeigen".

Servicetelefon zu "Radikalisierung"

Kämpfen psychisch Kranke mit Problemen, können sie in der Ideologie einfache Antworten finden und sich schneller zu Gewalt verleiten lassen. Die Behörde betreibt mit der Hotline "Radikalisierung" ein Servicetelefon und hat Broschüren aufgelegt, um zu erklären, wie man Radikalisierungen erkennt. "In jedem Falle ist die psychologische Begleitung geflüchteter Menschen aus Kriegsregionen verbesserungsbedürftig", meint Anwalt Bär – und schüttelt den Kopf über die Ferndiagnose eines Gutachters aus Tübingen. Betreffend die Tat im ICE fragen BILD und die Neue Zürcher Zeitung "Doch keine Psycho-Tat?", und verweisen auf Peter Winckler.

Der Psychiater gibt sich, obgleich er den Beschuldigten nie gesehen hat, überzeugt, dass dessen Verhalten gegen eine psychische Erkrankung spricht.

"Ich bin krank. ich brauche Hilfe."

Die Begründung: Als Polizisten den Tatverdächtigen im ICE zu Boden brachten und fesselten, äußerte er: "Ich bin krank, ich brauche Hilfe." Es mag sein, dass es Täter gibt, die es darauf anlegen, für verrückt gehalten zu werden, so Bär. Doch zu gewinnen sei mit dieser Taktik nichts, wenn der Beschuldigte ewig hinter den Mauern der Psychiatrie verschwindet.

Forensik - zum Schutz der Allgemeinheit

Maßregelvollzug meint "open end": Wer eine Freiheitsstrafe im Gefängnis verbüßen muss, weiß, wann er wieder entlassen wird. Für Betroffene in der Forensik ist dies nicht klar. Sie leben in völliger Abhängigkeit von den jährlichen Stellungnahmen ihrer Therapeuten, den Beurteilungen externer Gutachter und den Überprüfungen des Gerichts. Die Maßregel dient der Heilung und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. So steht es in Paragraf 63 des Strafgesetzbuches. Hier kommt nur raus, wer nicht mehr als gefährlich gilt.

Bürgermeister schrieb einen offenen Brief

Als Verteidiger des mutmaßlichen ICE-Messerangreifers hält Bär eine genaue psychiatrische Diagnostik für wichtig. "Es soll eben nicht der Eindruck entstehen, dass leichtfertig von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen wird." Auch die Transparenz von Strafverfahren ist ein hohes Gut im Rechtsstaat – und "unfassbar" sind die Verbrechen nur für uns Laien.

Psychiater wissen, dass sich Persönlichkeitsstörungen und Extremismus nicht ausschließen müssen. Christian Schuchardt (CSU), Würzburgs Oberbürgermeister, schrieb in einem offenen Brief, dass er um die Opfer und deren Angehörigen geweint habe. Doch seine Tränen galten auch dem "Schubladendenken", in dem Geflüchtete mit "Glaubenskriegern" gleichgesetzt würden.

Im Grenzgebiet von Psychiatrie und Recht

Wer kriminell wird, ohne schuldfähig zu sein, kann für seine Taten nicht bestraft werden. Da Richter freilich nicht nach Bauchgefühl entscheiden dürfen, ob eine geistige Erkrankung vorliegt, suchen Psychiater im Grenzgebiet von Psychiatrie und Recht zu klären, ob Gewalt - oder Sexualtäter ihre Verbrechen aus freiem Willen oder unter Einfluss einer psychischen Störung begangen haben.

Kaum ein Strafverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth kommt ohne Psychiater aus. Erfahrene Sachverständige wie Thomas Lippert, Michael Wörthmüller, Chefarzt der Forensik in Erlangen oder Prof. Susanne Stübner, Chefin der Forensik am Bezirksklinikum Ansbach, sitzen regelmäßig in Gerichtssälen. Wie es hinter der Stirn eines Straftäters aussieht, entscheiden sie nicht aus dem Bauch heraus.

Freilich können sie den Geisteszustand nicht per Fieberthermometer bestimmen, doch sie sprechen mit den Betroffenen, stützen sich auf jahrelange klinische Erfahrung, kennen die Akten und hören die Zeugen. Kritiker schimpfen zuweilen über vermeintliche Richter in Weiß. Doch kaum ein Prozess, in dem Gutachter den Richtern nicht Entscheidungsalternativen nennen, etwa ausführen, dass es denkbar ist, dass der Angeklagte im Affekt handelte - auch auch eine geplante Tat nicht auszuschließen ist. Die Entscheidung treffen die Richter, die Psychiater bieten nur Erklärungen an.

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