
Ab 1961 kamen "Gastarbeiter" aus der Türkei
60 Jahre Anwerbeabkommen: Der Nürnberger Bayraktar fordert "Teilhabe auf Augenhöhe"
Herr Bayraktar, hat sich die Reise zur Feier nach Berlin gelohnt?
Auf jeden Fall. Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sehr deutliche Worte gefunden. Am besten hat mir sein Schlusswort gefallen: Er hat uns aufgefordert, den Platz in der Mitte der Gesellschaft einzunehmen, denn es ist unsere Gesellschaft.
Was ist Ihnen wichtig, anlässlich des Jubiläums zu betonen?
Es sind die Themen, die wir immer auf der Tagesordnung haben: Chancengleichheit, Teilhabe und Normalität. Dass die Menschen, die vor 60 Jahren und später eingewandert sind, mittlerweile ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft sind. Darauf hat auch der Bundespräsident wert gelegt: Die Geschichte der Migration ist ein fester Bestandteil der deutschen Geschichte. Die Folgegenerationen sind inzwischen in der Mitte der Gesellschaft ankommen, aber Normalität herrscht trotzdem nicht.
Wie weit sind wir davon noch entfernt?
Studien belegen: Ohne biodeutsch klingenden Namen hat man es sehr schwer bei Bewerbungen oder der Wohnungssuche.
Erste Generation bekommt zu wenig Hilfe
Feiern Sie dieses Jubiläum auch privat, zum Beispiel mit Ihrer Mutter, die als erste Generation hierherkam?
Man tauscht sich aus: Über Erinnerungen, wie es damals war, unter welchen Umständen sie gelebt hat, wie sie sich heute fühlt. Sie ist ja jetzt Rentnerin und pflegebedürftig. Daran sieht man, dass die erste Generation in der Regel mitgenommen ist von der harten Arbeit. Es gibt viele körperlich und psychisch Erkrankte, die Hilfe benötigen.
Bekommen sie diese?
Leider nicht, das ist das große Dilemma. Die Menschen aus der ersten Generation werden oft ausgeblendet. In Nürnberg haben wir Glück, dass mit dem Hayat-Pflegedienst ein türkischstämmiges Angebot da ist. Diese Menschen sprechen ja kaum Deutsch. Sie bräuchten auch türkischsprachige Psychiater.
Ist es auf dem Land noch schwieriger?
Auf jeden Fall. Den Hayat-Pflegedienst gibt es ja nicht mal in anderen großen Städten.
Waren "Gastarbeiter" vor allem Männer?
Der männliche Arbeiter kam zuerst und holte später seine Frau samt Kindern nach. Klischee oder Realität?
Hier in der Region waren es ein Drittel Gastarbeiterinnen. Sie arbeiteten in der Elektroindustrie, bei Grundig, Siemens oder AEG. Dort wurden hauptsächlich Frauen angeworben, weil die filigraner arbeiten konnten.
Brauchen wir mehr im öffentlichen Raum sichtbare Anerkennung?
In Fürth gibt es jetzt eine Stele für die Verdienste der Gastarbeiter, das ist bundesweit einmalig. Da müsste Nürnberg nachlegen. Solche Stätten zeigen Dankbarkeit, vor allem für die Wertschöpfung, die diese Menschen dem gesamten Land gebracht haben. Das wird zu wenig honoriert.
Etwas anderes wäre Wertschätzung in Form eines kommunalen Wahlrechts, das türkeistämmigen Menschen ohne deutschen Pass verwehrt bleibt...
Richtig. Alle Parteien sind dafür, nur die Union ist dagegen. Viele Türkeistämmige sind konservativ eingestellt. Da schießt sich die CSU ins eigene Bein.
NSU als unaufgeklärter Tiefpunkt
Wenn Sie auf die 60 Jahre zurückblicken, was waren Höhe- und Tiefpunkte?
Es gibt Leuchttürme wie die Erfindung des Biontech-Impfstoffes durch Uğur Şahin und Özlem Türeci. Negativ gerade hier in der Region war die rassistische NSU-Mordserie, die bis heute nicht aufgeklärt ist.
Und nach vorne geschaut, was muss sich noch ändern?
Deutschland hat sehr spät die Einsicht gehabt, dass man ein Einwanderungsland ist, was bedeutet, dass man Migration zum Positiven steuern muss. Da hinkt die Politik hinterher, man muss mehr Chancengleichheit und Teilhabe auf Augenhöhe schaffen.
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