Enormer Leistungsdruck

Stimmungsbild: Wie geht es Kindern in der Schule?

4.12.2021, 14:02 Uhr
Wenn das Lern- und Leistungspensum über den Kopf wächst: Eineinhalb Jahre waren Kinder und Jugendliche raus aus dem Schulalltag - das hat bei vielen Spuren hinterlassen.

© Thomas Eisenhuth, NN Wenn das Lern- und Leistungspensum über den Kopf wächst: Eineinhalb Jahre waren Kinder und Jugendliche raus aus dem Schulalltag - das hat bei vielen Spuren hinterlassen.

Motivationsmangel, Konzentrationsschwächen, Aggression, Leistungseinbruch: Im Schulalltag werden die Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche sichtbar. Die Online-Beratungsstelle JugendNotmail beobachtet, dass das Thema schulische Überforderung eine größere Rolle spielt. Zwei Drittel der Lehrkräfte stufen Motivationsprobleme und Konzentrationsmangel laut Deutschem Schulbarometer Spezial der Robert-Bosch-Stiftung als Problem ein.

Dabei hatte das Kultusministerium die Vorgabe erteilt, bis zu den Weihnachtsferien solle aufgearbeitet und wiederholt werden. Leistungsdruck einerseits, als hätte es nie einen Lockdown gegeben, und Kinder andererseits, deren Probleme im schulischen, sozialen und psychischen Bereich nicht aufgegangen wurden – stimmt dieser Eindruck? Wir haben mit Hilfe des Bayerischen Elternverbands (BEV) Eltern sowie über unseren Klasse!-Newsletter Lehrkräfte per E-Mail um Rückmeldung gebeten und mit dem Landesschülerrat gesprochen. Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge der Antworten. Die Namen liegen uns vor, wir haben Anonymität zugesichert.

Stimmen von Eltern

"Ich weiß von mindestens drei Kindern in der Klasse, die sich aufgrund von dem Druck, der gerade herrscht, selbst verletzen. Die Kinder haben ständig Bauchweh, Schlafstörungen und keine Lust mehr, zur Schule zu gehen. Die Schulleitung ist informiert und die Schulpsychologin ist involviert. Ich verzweifle gerade, weiß nicht, wie ich meiner Tochter helfen soll. Ich wünsche mir einen Stopp aller Proben und die Konzentration auf das Notwendigste."

"Das, was den Kindern aufgbürdet wird ist eine Zumutung, der selbst viele Erwachsene nicht stand halten würden."

"Wir sind froh, dass wir es uns – momentan – leisten können, unserer Tochter die Unterstützung geben zu können. Wir möchten nichts weniger, als dass sie von sich denkt ,Ich bin dumm‘, weil sie inhaltlich nicht mitkommt. In verschiedenen Gesprächen mit Mamas haben fünf mit mir geweint, vor Verzweiflung, Unverständnis und Hilflosigkeit."

"Auch ich kann bestätigen, dass keinerlei Rücksicht auf die Situation genommen wird. Das Homeschooling letztes Jahr war sehr, sehr, sehr lehrerabhängig und in der Qualität sehr stark schwankend. Es bestehen Lücken, die die Eltern mit den Kindern aufarbeiten sollen. Wir wurden auf das 30-seitige Konzept "Lernen lernen" auf der Homepage hingewiesen. Es wird ausschließlich neuer Stoff behandelt; Wiederholung fand nur in den ersten zwei Wochen nach den Sommerferien statt. Die Schulaufgaben werden planmäßig geschrieben. Es ist ein enormer Unterstützungsbedarf durch uns Eltern gegeben. Diese Unterstützung wird erwartet und eingefordert. Ich denke, der Bildungserfolg unserer Kinder hängt jetzt mehr denn je vom Elternhaus ab. Ich war ein Kind, das diese Unterstützung nicht bekommen hat; ich wäre in dieser Situation gnadenlos untergegangen."

"Wie es der Lehrplan vorsieht, wurde nach den Sommerferien bis zu den Herbstferien wiederholt, danach mit neuem Stoff angefangen. Für uns ist das sehr positiv, denn unserer Tochter hat das langweilige Wiederholen überhaupt nicht gefallen, sie war froh, als es endlich mit neuem Stoff weiterging. Viel und vertieft zu wiederholen heißt natürlich auch, anderen Stoff gar nicht zu behandeln, dass ist ein zweischneidiges Schwert."

"Ich habe drei Kinder, davon einen Sohn in der 5. Klasse, der unter dem Druck leidet. Leider waren die letzten beiden Schuljahre eine Katastrophe, und er ist es einfach nicht gewöhnt, mehr als ein Blatt Mathe und ein Blatt Deutsch zu machen. Erwartet wird aber der komplette Stoff aus der 4. Klasse, der einfach nur angeschnitten wurde. An unserer Grundschule hat jeder Lehrer gemacht, was er wollte. Vom Gymnasium gibt es keine Brückenbau-Stunden oder Wiederholungen von verpasstem Stoff. Das müssen wir zuhause leisten."

"Bedarf an Unterstützung ist enorm"

"Unsere Tochter geht in die dritte Klasse. Ich muss sagen, dass ich überrascht bin angesichts des Leistungsanspruches, der an die Kinder gestellt wird. Es wurde nach meiner Wahrnehmung lediglich in den ersten drei bis vier Wochen Stoff wiederholt. Seitdem geht es in vollen Schritten mit neuem Stoff voran, und es werden ständig Proben geschrieben. Von tiefgehender Wiederholung bzw. nachhaltigem Aufholen des Stoffes der zweiten Klasse kann nicht die Rede sein. Die Kinder zurück in den regulären Schulalltag und den normalen Leistungsdruck zu werfen - nach über einem Jahr fehlender Routine -, finde ich fast skandalös. Da werden wohl zwangsläufig einige auf der Strecke bleiben."

"Wiederholung fand in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch nur in den ersten beiden Schulstunden statt. Seitdem wird der Stoff durchgezogen, als ob Corona nicht existieren würde. Teilweise wird auch keine Rücksicht genommen, dass die Kinder erst einmal wieder Lernen lernen mussten. Nein, Noten müssen her, weil der nächste Lockdown ja schon so gut wie vor der Tür steht."

"Der Elternbeirat hatte im Juli bei der Schulleitung angefragt, wie der Notfallplan aussähe im Falle von Quarantäne Einzelner bzw. ganzer Klassen oder im Falle eines erneuten Lockdowns. Da kam absolut nichts. Wir waren sprachlos. Ganz offensichtlich hat das Ministerium keine weiteren Einschränkungen des Präsenzunterrichts durch die Pandemie vorgesehen. Was bei mir hängengeblieben ist: Das Ministerium hält den Lehrkörper dazu an, den Lehrplan auf Gedeih und Verderb durchzuboxen. Wenn es dann aber mal nicht so rosig aussieht, kann man die Verteilungskurve nach Belieben verschieben. Am Ende dieser 4. Klasse kommen dann von der Verteilung in etwa so viele Gymnasialkinder, Realschulkinder, Mittelschulkinder und freiwillige Wiederholer und Vorrücker auf Probe heraus wie sonst auch immer. Alles richtig gemacht: „Bildungsqualität“ und „Qualität der Abschlüsse“ gesichert in Bayern!"

"Unsere größere Tochter ist von der Grundschule in die Realschule gewechselt, geht somit in die 5. Klasse. Sie hätte mit Ihren Noten in das Gymnasium übertreten können, allerdings haben wir als Eltern entschieden, dass sie wohl besser in die Realschule passt. Die Noten, die sie bis jetzt mitgebracht hat, liegen in den Hauptfächern zwischen 3 und 6. Diese Noten haben wir bei ihr noch nie gesehen (4,5,6). Meine Frau hat erst gestern wieder mit dem Gedanken gespielt, ihren Job zu kündigen, denn obwohl intensiv mit unserer Tochter gelernt wird, werden die Noten nicht besser. Es werden viele Exen geschrieben und auch alle Schulaufgaben, wie auch in einem normalen Schuljahr. Bei uns gibt es sehr oft Tränen, da unsere Tochter denkt, sie schafft es nicht. Es ist für sie eine große Belastung, die wir von ihr so auch nicht kennen."

"Insgesamt steht und fällt der Wissensstand mit dem Engagement der jeweiligen Lehrkräfte. Auf Nachfrage im Freundeskreis kann ich mitteilen: Kinder in Übertrittsklassen werden nicht auf die hohe Leistungsfähigkeit vorbereitet, Kinder aus covid-erkrankten Familien werden stigmatisiert, keine Zeit für Pflege der Klassengemeinschaft bzw. Mobbing, weil Schulstoff durchziehen Vorrang hat."

"Meine Tochter geht auf ein Gymnasium in die 9. Klasse. Auch sie hat nach dem Lockdown Probleme beim konzentrierten Lernen, obwohl sie zu den guten Schülern gehörte und obwohl sie unter dem Lockdown nicht so sehr zu leiden hatte. Auch sie hat einen enormen Leistungsabfall und steht unter enormem Druck. Auch ich lerne mit ihr ständig, damit sie den Anschluss nicht verliert. Auch sie hat das Glück, dass ich die Zeit aufbringen kann und auch in der Lage bin, sie zu unterstützen. Am Elternabend darauf angesprochen, dass das Kultusministerium doch bis Weihnachten Wiederholen und Vertiefen wollte, bekam der entsprechende Vater vom Klassleiter die Antwort: Dazu werden die Intensivierungskurse am Nachmittag angeboten. Sein Kind solle sich bei Bedarf darauf bewerben. Auf den Einwand, dass das bei dem normalen Lernpensum doch dem ein oder anderen Kind zu viel wird, entgegnete der Lehrer: ,Es steht Ihnen auch frei, Ihr Kind ein Jahr zurückzustufen, dann kann es intensiv wiederholen. Im Unterricht ist dazu keine Zeit.'"

Stimmen von Lehrkräften

"Ich habe zu Beginn dieses Schuljahres meinen 80 Lehrern sehr klar zu verstehen gegeben, dass es jetzt nicht darauf ankommt, möglichst schnell Noten zu erhalten und möglichst viel Stoff zu schaffen, sondern dass wir zunächst alle Schullandheime, Abschlussfahrten, Wandertage, Orientierungstage und schulische Projekte durchführen. Dies haben wir getan. Meine Schüler und Schülerinnen waren sehr glücklich darüber. Deshalb kann ich nur sagen, dass es bei mir an der Schule relativ gut funktioniert bezüglich Notendruck. Selbstverständlich sehen wir auch, dass zum Teil enorme Defizite vorliegen, die nur über viele Monate oder Jahre hinweg ausgeglichen werden können. Dies gilt sowohl für die formale Bildung, als auch für das soziale Verhalten."

"Grundsätzlich gehe ich davon aus: Lehrkräfte haben mehrheitlich noch keine systematische Ausbildung in teamorientierten Prozessen; die Vielfalt und Tiefe verwaltungsbezogener Aufgaben in jedem Bereich schulischen Arbeitens haben spürbar zugenommen; Lehrkräfte können die Bedingungen, Inhalte und Ziele von DigCompEdu (Einsatz digitaler Medien in der Schule) mehrheitlich nicht umsetzen; die berufsbezogene Identitätsbildung v.a. am Gymnasium läuft über die fachlichen Inhalte, sodass Bereiche der Didaktik, Pädagogik und Psychologie immer noch eine nachgeordnete Rolle spielen. Es herrscht also: umfassende Verunsicherung. Corona spitzt auch hier Probleme zu. Gleichzeitig gibt es ein starkes Gerüst, das orientierend und absichernd wirkt: „der Stoff“, „das Fach“, „die Unterrichtsstunde“. In dieses Gerüst ziehen wir uns zurück, manche retten sich sogar darin."

Landesschülersprecher Moritz Meusel.

Landesschülersprecher Moritz Meusel. © privat

„Mein persönlicher Eindruck an unserer Schule ist: Die Notenjagd ist nicht so ausgeprägt wie vergangenes Jahr. Die Schulleitung hat sich zusammen mit den Fachleitungen bemüht, einen goldenen Mittelweg zu finden. Denn die Schülerinnen und Schüler wollen ja ein Feedback - und zwar am besten ein aufbauendes. Sie wollen wissen, wo sie stehen. Wir versuchen, die Spielräume bei den Vorbereitungen und im Bewertungsbereich auszunutzen, denn natürlich hat der lange Lockdown Löcher gerissen. Ich kann einer siebten Klasse jetzt nicht die gleiche Schulaufgabe vorlegen wie einer siebten Klasse vor drei Jahren. Auch hier haben wir Möglichkeiten, auf die Kinder zuzugehen. Natürlich gibt es engstirnige Kolleginnen und Kollegen, die ihr altbekanntes Muster umsetzen wollen. Da kann ich Eltern nur raten, sich an die Schulleitung zu wenden. Deren Interesse entspricht nämlich eher dem der Schülerinnen und Schüler."

Stimme des Schülersprechers Moritz Meusel

„Viele Schülerinnen und Schüler haben zu kämpfen. Die Nerven liegen blank, auch bei denen, die vor der Krise psychisch stabil waren. Und die Versorgung in diesem Bereich ist sehr schlecht: Sie warten als Jugendlicher Monate auf eine Behandlung beim Therapeuten. Auch die Schulpsychologen sind überlastet. An unserer Schule haben wir eine Schulpsychologin im Haus. Das Glück hat längst nicht jede Schule. Auch bei ihr wartet man unter Umständen Wochen auf einen Termin, um darüber zu sprechen, warum man in der Schule gerade nicht mitkommt.

Je größer die Angst vor dem nächsten Lockdown, desto größer wird der Druck der Lehrkräfte, nur irgendwie schnell Noten einzuholen. Dabei hat sich wenig getan, was die Lernrückstände anbelangt: Das Programm „Gemeinsam.Brücken.bauen“ ist ein schlechter Witz, nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Am besten zurecht kommen wie auch im Distanzunterricht die älteren Schülern und Schülerinnen an Gymnasien, FOS/BOS oder auch Realschulen, die eigenständig arbeiten können. Schwieriger wird es in Mittel- oder Förderschulen, wo lange gar nichts lief. Da spielt der sozioökonomische Hintergrund auch eine Rolle. Die besser Situierten hatten die technische Ausrüstung, Eltern finanzieren Nachhilfeunterricht. Dann geht das schon irgendwie.

Notmaßnahmen erst, wenn es brennt

Meine Lösungsvorschläge? Zuerst endlich damit aufhören, immer nur Feuerwehr zu spielen, das Nötigste zu tun und sich hinterher mit Notmaßnahmen durchzuboxen. Die Schulen sollten vorausschauend fit gemacht werden – denn das Thema wird uns nächstes Jahr wieder auf die Füße fallen, das prophezeie ich.

Außerdem muss man endlich an die Lehrpläne ran. Ja, das Kultusministerium hat gekürzt. Aber was? Sachen, die optional auf dem Lehrplan standen. Diese Themen kamen auch so fast nie dran, weil die Zeit mit dem Pflichtstoff ausgefüllt war.

Dann möchte ich einen Appell an alle Erwachsenen richten: Bitte nehmt Rücksicht auf uns und lasst euch impfen!"

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