Heroldsberger Motorik Institut

"Handschreiben macht schlauer"

12.1.2022, 09:14 Uhr
Es geht nicht um ein entweder Handschrift oder Tippen, sondern um ein sowohl als auch - und das sinnvoll kombiniert. 

© imago images/Jochen Tack, NNZ Es geht nicht um ein entweder Handschrift oder Tippen, sondern um ein sowohl als auch - und das sinnvoll kombiniert. 

Warum ist es wichtig, dass Kinder lernen, mit der Hand zu schreiben?

Marianela Diaz Meyer: Wenn wir über die Handschrift sprechen, sprechen wir nicht über die Schrift selbst, sondern über die Bewegungen, die zur Schrift führen. Diese Bewegungen nennen wir Schreibmotorik. Sie werden mit den Fingern und Handgelenken durchgeführt, hinzu kommen begleitende Bewegungen aus dem Arm und der Schulter. Üben wir diese koordinierten Abläufe aus, wird ein neuronales Feuerwerk gezündet, weil mehr als 30 Muskeln und 17 Gelenke koordiniert werden, indem zwölf Gehirnareale aktiviert sind.

Marianela Diaz Meyer leitet das Schreibmotorik Institut in Heroldsberg.

Marianela Diaz Meyer leitet das Schreibmotorik Institut in Heroldsberg. © privat, NNZ

Und das hat welche Folgen?

Marianela Diaz Meyer: Handschreiben macht einfach schlauer. Es ist wissenschaftlich belegt: Das Schreiben von Hand unterstützt nachhaltig das Lesen, die Rechtschreibung, die Logik, die Kreativität und die Merkfähigkeit. Wir haben eine repräsentative Studie unter Lehrkräften durchgeführt. Die Mehrheit stellt einen Zusammenhang zwischen dem Handschreiben und den Leistungen der Schülerinnen und Schüler fest. Eine bessere schreibmotorische Förderung könnte also dazu beitragen, die Bildungschancen aller Kinder anzugleichen.

Ist das Schönschreiben wichtig?

Marianela Diaz Meyer: Es gibt drei Aspekte, die eine gute Handschrift ausmachen: Leserlichkeit, Schreibtempo und Ausdauer. Wichtig ist in erster Linie nicht eine schöne Schrift, sondern das flüssige und leserliche Schreiben. Das ist auch im deutschlandweiten Bildungsstandard vorgegeben. Schönschreiben ist ein Hobby, korrektes Handschreiben dagegen ein Lerninstrument.

Die Realität ist: Wir schreiben immer weniger und tippen immer mehr. Wie wirkt sich das aus?

Marianela Diaz Meyer: Das Handschreiben erfordert größere motorische Fertigkeiten und eine stärkere Differenzierung von Bewegungen als das Tippen. Wenn wir Buchstaben mit der Hand schreiben, prägen sich die unterschiedlichen Formen dauerhafter ein. Jeder Buchstabe hat einen charakteristischen Bewegungsablauf. Genau diese kleinsten unterschiedlichen Abläufe sind es, die das Gehirn aktivieren und uns beim Lernen helfen. Beim Tippen erzeuge ich mit den immer gleichen Bewegungen die Buchstaben. Das bedeutet nicht, dass Tippen schlecht ist. Viele Menschen schreiben auf der Tastatur schneller als mit der Hand. Aber wenn es darum geht, das Geschriebene im Kopf zu behalten, also zu lernen, hält man es besser handschriftlich fest. Tippen ist eher eine Informationseingabe.

Scheiben mit dem Tablet-Stift: Es fehlt die Haptik

Gilt das Schreiben mit dem Tablet-Stift als Handschreiben?

Marianela Diaz Meyer: Im Sinne der handschriftlichen Bewegungsabläufe: Ja. Allerdings sind die Eigenschaften dieser digitalen Produkte noch nicht ausreichend ausgereift, etwa was die unterschiedliche Wirkung des Drucks oder der Reibung bedeutet. Genau diese authentische Haptik ist aber sehr wichtig. Wir wünschen, dass die Produktentwicklung das berücksichtigt.

Der Bildungsstandard gibt vor, dass Kinder bis zum Ende der 4. Klasse mit der Hand lesbar und flüssig schreiben sollen. Trifft das noch zu?

Marianela Diaz Meyer: Wir haben 2019 eine repräsentative Umfrage unter Lehrkräften durchgeführt gemeinsam mit dem Verband Bildung und Erziehung. Das Ergebnis: 31 Prozent der Mädchen und sogar 51 Prozent der Jungen haben Schwierigkeiten beim Erwerb der Handschrift. Fast zwei Drittel der Schüler und Schülerinnen in weiterführenden Schulen können nicht länger als 30 Minuten beschwerdefrei schreiben. Diese Kinder sind enorm im Nachteil. Wir haben gemeinsame Projekte mit Partnern aus Österreich, Luxemburg, Frankreich und Italien. Wir alle sehen den Bedarf. Europaweit verlassen elf Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss, viele von ihnen verfügen über mangelhafte Lese- und Schreibkenntnisse.

Die Studie war von 2019 – dann kam Corona. Eine Schulleiterin aus Nürnberg hat gesagt, die Kinder brauchen jetzt nicht nur Lesepaten, sondern auch Schreibpaten. Welche Folgen fürchten Sie?

Marianela Diaz Meyer: Genau diese Frage haben wir uns auch gestellt und eine neue Umfrage gestartet. Die Ergebnisse werden im Frühjahr 2022 veröffentlicht. Wir vermuten aber eine weitere Verschlechterung vor allem der ohnehin sozial benachteiligten Kinder. Wir haben schon seit 2016 ein Projekt im Kindergarten, es heißt „Kritzelpaten“, weil wir schon damals das Problem der falschen Stifthaltung gesehen haben. Die Kinder verschwenden viel Energie mit zu festem Druck. Die Energie brauchen sie aber für die Ausdauer. Je früher wir eingreifen, desto einfacher können falsche Gewohnheiten reguliert werden.

Zuerst die Handschrift, dann der Computer

Smartphone, Tablet, Computer – Jugendliche schreiben, um ehrlich zu sein, immer weniger mit der Hand.

Marianela Diaz Meyer: Ja. Deshalb müssen wir ihnen nahebringen, wie wichtig die sinnvolle Kombination von analogem und digitalem Schreiben ist. Das hat zwei Hintergründe: Erstens zeigen Studien, dass der Automatisierungsprozess beim Handschreiben erst mit etwa 16 Jahren erreicht wird. Die Vorteile des Handschreibens gelten also nicht nur für kleinere Kinder, sondern auch für Jugendliche und Erwachsene. Zweitens bildet das Handschreiben die Grundlage für das Berufsleben. Ich komme selbst aus einem technischen Beruf, ich bin Ingenieurin. Bei der Entwicklung innovativer Prozesse sind handschriftliche Notizen noch immer maßgeblich. Vor der computergestützten Arbeit denken und konzipieren wir mit der Hand. Im dritten Schritt können wir Software, Programme, Animationen nutzen. Genau diese sinnvolle Kombination sollten wir den Kindern beibringen.

Hier geht es auf die Homepage des Schreibmotorik Instituts. Gerade werden Lehrkräfte aufgerufen, an einer 20-minütigen Online-Befragung zum Thema teilzunehmen.

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