Wenn er vergisst, dass er mich liebt

Alzheimer! Wie der 15-jährige Oskar Seyfert die Erkrankung seines Vaters in einem Buch verarbeitet

6.2.2022, 06:00 Uhr
Oskar Seyfert, 15, lebt mit seinem 58 Jahre alten Vater, seiner Mutter (50), seinem Bruder (13) und seiner Schwester (11) in Hamburg. Er spielt gerne Fußball, macht Krafttraining und beschäftigt sich mit Philosophie.

© Marianne Moosherr Oskar Seyfert, 15, lebt mit seinem 58 Jahre alten Vater, seiner Mutter (50), seinem Bruder (13) und seiner Schwester (11) in Hamburg. Er spielt gerne Fußball, macht Krafttraining und beschäftigt sich mit Philosophie.

Oskar, hat dein Vater dich heute noch erkannt?

Oskar Seyfert: Ja. Zum Glück erkennt er mich immer. Zumindest noch.

Und verstehst du ihn immer, wenn du mit ihm sprichst?

Seyfert: Nein, seine Aussprache wird immer undeutlicher, und selbst wenn ich ihn verstehe, weiß ich nicht immer, was er meint.



Alzheimer führt auch zu einer deutlich verkürzten Lebenserwartung. Macht dir das Angst?

Seyfert: Auch viele Leute, die kein Alzheimer haben, haben im hohen Alter oft keine große Lebenslust mehr. Darum glaube ich, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn man mit 70 statt mit 85 Jahren stirbt. Trotzdem ist es natürlich doof zu wissen, dass mein Vater ohne die Krankheit wahrscheinlich länger leben würde.

Die Komplexität der Gespräche nimmt ab

Was ist das Schlimmste an Alzheimer?

Seyfert: Dass man immer mehr vergisst und deshalb immer weniger kann. Bei meinem Vater lässt das Gedächtnis nach und sein Körper wird schwächer. Beides wird immer schlimmer. Noch kann er sich alleine anziehen und alleine essen, aber es fällt ihm leichter, wenn man ihm dabei hilft. Als die Krankheit vor ungefähr fünf Jahren diagnostiziert wurde, konnte und wusste er noch sehr vieles. Aber mittlerweile hindert sie ihn am Denken. Inzwischen sind ganz viele Sachen und Namen einfach so aus seinem Gedächtnis verschwunden. Wenn man ihm etwas sagt, kann es passieren, dass er es sofort wieder vergisst. Vor allem solange die Betroffenen das noch merken, ist es schlimm. Mein Vater nimmt das noch wahr und leidet darunter. Er würde oft gerne helfen, kann es aber nicht mehr.



Weil die Krankheit meist erst bei älteren Menschen ausbricht, gibt es nur sehr wenige 15-Jährige, die einen an Alzheimer erkrankten Vater haben. Hast du dich jemals gefragt, warum ausgerechnet dein Vater krank geworden ist?

Seyfert: Nein. Es gibt viele Familien, in denen jemand schwer krank wird oder irgendetwas anderes passiert, das das Leben der Familie verändert. Vielleicht ist es Pech? Vielleicht ist es Schicksal?

Verbringst du viel Zeit mit deinem Vater?

Seyfert: Wir nehmen die meisten Mahlzeiten als Familie zusammen ein. Manchmal gucke ich einen Film mit meinem Vater, manchmal gehe ich mit ihm und unserem Hund spazieren, manchmal unterhalten wir uns einfach.

Kann dein Vater längeren Gesprächen noch folgen?

Seyfert: Es ist mittlerweile schwer, mit ihm über Kants "Kritik an der reinen Vernunft" oder andere schwierige Dinge zu debattieren. Wir können nur noch über einfache Themen sprechen. "Wie geht's dir? Wie geht's dem Hund? Möchtest du das Essen?" Die Komplexität der Gespräche nimmt ab.



Du schreibst, dass ihr deinen Vater eines Tages nicht mehr zu Hause pflegen können werdet und er dann in ein Heim muss. Schmerzt diese Vorstellung?

Seyfert: Meine Mutter hat sich vorgenommen, dass wir ihn erst in ein Heim bringen, wenn er es nicht mehr richtig realisiert. Es wird also nicht so sein, dass er dann traurig oder verletzt sein wird. Das wird es für uns leichter machen. Ich hoffe natürlich, dass er noch ein paar Jahre bei uns bleiben kann. Aber wenn die Krankheit sich jetzt total rasant entwickelt und er in einem halben Jahr so verpeilt ist, dass er gar nichts mehr hinkriegt, dann wird er früher ins Heim müssen.

Das Buch "Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben" ist am 31. Januar im Westend Verlag erschienen und kostet 12 Euro.

Das Buch "Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben" ist am 31. Januar im Westend Verlag erschienen und kostet 12 Euro. © Westend Verlag/Montage: Sabine Schmid

Dein Buch trägt den Titel "Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben". Nach dem, was du erzählt hast, klingt es nicht gerade nach einem Privileg einen alzheimerkranken Vater zu haben...

Seyfert: Im Buch schreibe ich, dass ich es natürlich nicht schön finde, dass mein Vater krank ist. Natürlich ist das schlecht und eine Herausforderung, die uns täglich anstrengt. Aber genau diese Herausforderung macht die Krankheit auch zum Privileg, aus dem etwas Gutes entstehen kann.

Wir werden abgehärtet

Wie meinst du das?

Seyfert: Da meine Geschwister und ich täglich getestet werden und uns täglich anstrengen müssen, um mit der Krankheit klarzukommen, werden wir auf eine gewisse Art besser aufs Leben vorbereitet. Wir werden härter gemacht und abgehärtet. Weil wir Erfahrungen gemacht haben, die andere Kinder und Jugendliche nicht gemacht haben, sind wir auf gewisse Art tougher als andere in unserem Alter. Das kann einem später im Leben durchaus helfen. Einer meiner Freunde hat mal gesagt: "Wenn du in deiner Kindheit überhaupt keine Probleme hattest, ist genau das dein Problem." Ich denke, dass es gut für den Charakter ist, wenn man in seiner Kindheit größere Herausforderungen bestehen musste, als nur das Seepferdchen-Abzeichen zu machen.

Findest du nicht, dass du für diese Abhärtung einen ziemlich hohen Preis zahlst?

Seyfert: Definitiv, definitiv! Natürlich fände ich es besser, wenn die Krankheit einfach nicht mehr da wäre. Darum spreche ich auch eher vom Privileg der Abhärtung als vom Privileg der Krankheit.

Du schreibst, dass dein Vater mit dem Fortschreiten der Krankheit für dich immer mehr an Vorbildfunktion verloren hat. Kann ein kranker Mensch kein Vorbild sein?

Seyfert: Früher hat mein Vater viel gemacht und gewusst, worauf ich sehr stolz war und was ihn für mich zum Vorbild gemacht hat. Er wusste so viel und hat als Arzt Menschenleben gerettet. Es ist jetzt nicht mehr möglich, diese Sammlung an tollen Erinnerungen zu erweitern, weil die Krankheit meinen Vater daran hindert, Dinge zu tun, die ihn für mich zum Vorbild machen können.

Das klingt sehr hart. Kann er in seinem jetzigen Zustand für dich nicht mehr Vorbild sein?

Seyfert: Hm. Vielleicht werde ich ihn später mal dafür bewundern, wie er mit der Krankheit umgegangen ist. Aber gerade fällt mir nichts ein, wofür ich ihn jetzt bewundere.



Wenn die Eltern alt werden, müssen die Kinder sich oft um sie kümmern. Ist es bei dir und deinem Vater zu früh zu einem Rollenwechsel im Vater-Sohn-Verhältnis gekommen?

Seyfert: Ja, das ist zu früh passiert. Aber das ist nicht das Schlimmste an der Krankheit. Das Schlimmste ist das Vergessen.

Was macht einen guten Sohn aus?

Seyfert: Ein guter Sohn hat die Verpflichtung, zu versuchen das Beste aus seinem Leben zu machen.

Viele alte Erinnerungen erhalten

Und was macht einen guten Vater aus?

Seyfert: Dass er sein Kind liebhat. Darum macht es mir Angst, dass mein Vater eines Tages vergessen wird, dass er mich liebt.

Wie möchtest du deinen Vater in Erinnerung behalten?

Seyfert: Ich weiß, dass es mir nicht möglich sein wird, ihn so in Erinnerung zu behalten, wie ich das gerne hätte. Eigentlich hofft man immer, dass nur die guten Erinnerungen bleiben. Doch das hieße, die Krankheit zu verdrängen. Aber die Krankheit wird bei den Erinnerungen an seine letzten Jahre im Vordergrund stehen. Trotzdem hoffe ich, dass ich mir auch viele alte Erinnerungen – als mein Vater noch alles konnte – erhalten kann.

Dein Vater wird vermutlich schon bald keine Erinnerungen mehr an die Zeit mit dir haben. Tut das weh?

Seyfert: Ich werde damit leben müssen, dass er mich gekannt hat, mich am Ende aber nicht mehr kennen wird. Ich weiß nicht, ob ich an den Himmel glaube. Aber sollte er dort hinkommen, fände ich es schön, wenn er mich von dort oben sieht.



Glaubst du an Gott?

Seyfert: Ja, aber das hat nichts mit der Krankheit meines Vaters zu tun. Ich konnte mir schon vorher gut vorstellen, dass es Gott gibt.

Hilft dir dein Glaube im Umgang mit der Krankheit des Vaters?

Seyfert: Ich bin keiner, der oft zu Gott spricht, aber es kann gut sein, dass mein Glaube mir trotzdem hilft.

Verwandte Themen


Keine Kommentare