Ungefragte Erziehungstipps

"Nimm das Kind nicht gleich hoch": Wie schädlich alte Erziehungsmythen sind

13.7.2022, 12:29 Uhr
"Schreien stärkt die Lunge": Dieser Satz stammt aus dem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind".

© imago images/Bernd Friede "Schreien stärkt die Lunge": Dieser Satz stammt aus dem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind".

"Schreien stärkt die Lunge", "Nimm das Kind nicht gleich hoch, du ziehst dir einen Tyrannen heran" oder: "Dein Baby muss so früh wie möglich allein schlafen". Das sind nur einige gut gemeinte Ratschläge, die Eltern um die Ohren fliegen. Meist ungefragt, empfehlen Großeltern oder gänzlich Fremde, das Kind nicht zu verwöhnen.

Dabei ist es mitunter erschreckend, woher viele dieser "Erziehungstipps" – oder müsste man "Mythen" sagen? – kommen: "Schreien stärkt die Lunge" etwa stammt aus "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von der Ärztin Johanna Haarer. Die Erstausgabe erschien 1934, zuletzt wurde das Buch 1987 verlegt und lange darüber hinaus gelesen und empfohlen. So konnte sich dieser Ratschlag über Generationen hinweg in der Erziehung halten.

Der Tenor des "Ratgebers" ist unmissverständlich: Es sollte keine Bindung zwischen Kind und Eltern entstehen. Das Kind sollte von Geburt an zu größtmöglicher emotionaler Unabhängigkeit und zu bedingungslosem Gehorsam erzogen werden, bis hin zur Selbstaufgabe, um den Härten des Lebens begegnen zu können. Erziehung war damals auf die Optimierung der körperlichen Funktionen reduziert, vor Gesten der Zuneigung oder gar Zärtlichkeiten wurden die Mütter gewarnt – das Kind würde sich sonst zum Tyrannen entwickeln. Deshalb empfahl Haarer auch, das Baby nach der Geburt die ersten 24 Stunden allein zu lassen und erst dann zu stillen. Dass Kinder frühestmöglich allein schlafen sollen, streben manche Eltern noch heute an und erachtet die Gesellschaft als "wohl erzogen".

Warnung nur in Deutschland

Felicitas Runge, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin der Caritas-Erziehungsberatung, hat dazu eine klare Meinung: "Es ist bedenklich, dass sich die Warnung vor Verwöhnung nur in Deutschland über Jahrzehnte gehalten hat. In anderen Industrienationen hat sich nach dem Krieg die Haltung der Eltern-Kind-Beziehung grundlegend verändert." Schon 1938 wagte Dr. Benjamin Spock in den USA die damals revolutionäre These: "Babies are human beings" – also Babys sind menschliche Wesen.

"Den Bindungsstil zu den Eltern, den Menschen in der Kindheit vermittelt bekommen haben, geben 80 Prozent an die eigenen Kinder weiter", sagt Runge. Auch deshalb könnten Überzeugungen und Erziehungsmaßnahmen, wie der bekannte "Klaps auf den Po, der noch niemandem geschadet hat", in der Gesellschaft bestehen.

"Die Eltern früher waren keine Unmenschen, auch sie wollten das Beste für ihre Kinder und sie vor den Schrecken der Welt schützen", so die Diplompsychologin. Trotzdem sei die Angst, das Kind zu verwöhnen, noch in den Eltern verwurzelt. "Dabei haben wir heutzutage ganz andere Werte in der Erziehung. Nicht mehr Disziplin und Gehorsam, sondern Selbstsicherheit, Durchsetzungsvermögen, Ehrlichkeit, Toleranz, Flexibilität und Mobilität."

Felicitas Runge beobachte während ihrer Beratungen immer wieder, dass ein Kind als Projekt angesehen werde, in dem sich die Erziehungsleistung spiegelt. Die Eltern fühlen sich unter Druck, das Kind "richtig" zu erziehen. Doch was ist richtig? "Bindungsgerechte Erziehung beruht auf Feinfühligkeit. Es gibt kein Rezept und keine Listen, die Eltern abhaken könnten. Ihr seid die Experten für euer Kind", so Runge. Eltern sollten optimale Bedingungen schaffen, damit sich ihr Sprössling entfalten kann. "Befreit Euch vom Perfektionismus und vertraut auf die Entwicklung und das Potential eures Kindes."

No-Go definieren

Um nicht in veraltete, übernommene Muster zu verfallen, was besonders in Stresssituationen leicht geschieht, schadet es nicht, mit einer Freundin, dem Partner oder mithilfe eines Tagebuchs die eigene Kindheit zu reflektieren. Denn die Tendenz, die Kindheit zu beschönigen und Schlimmes zu verdrängen, ist groß: So seien laut einer Allensbach-Studie zwei Drittel der älteren Erwachsenen davon überzeugt, eine gute Kindheit gehabt zu haben, obwohl sie Angst, Einschüchterung, Gewalt und Erniedrigung durch Eltern oder Lehrer erlebt haben.

Wie können Eltern nun mit den gutgemeinten, aber oft unerwünschten Ratschlägen aus längst vergessenen Zeiten umgehen? Runge: "Mit den Tippgebern ein klärendes Gespräch führen oder, falls das nicht möglich ist, einen Brief schreiben." Meist führe an einer Auseinandersetzung mit den Eltern und einer deutlichen Abgrenzung von deren Erziehungsvorstellungen kein Weg vorbei. "Lässt sich die junge Mutter von der Großmutter zu sehr beeinflussen, verfällt sie selbst in die Rolle des Kindes und behandelt unter Umständen ihr eigenes Kind nicht so, wie sie es für richtig hält." Die jungen Eltern sollten klarstellen, was sie erwarten und was für sie ein No-Go ist.

Bei Unsicherheiten in Erziehungsfragen rät Runge zu einer Anmeldung bei einer Beratungsstelle wie die des Caritasverbands Nürnberg. Darauf haben Eltern einen Rechtsanspruch, die Beratung steht unter Verschwiegenheit und ist kostenlos.

Mehr unter www.caritas-nuernberg.de.

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