Historische Stadtmauer

Das geköpfte Stadttor: So schön war einmal der Ludwigstorzwinger

20.10.2021, 08:45 Uhr
Diese ungewöhnliche Perspektive vom Spittlertorgraben nahm 1907 die historische Bastei, verballhornt "Pastete" genannt, mit in den Blick.  

© Verlag Dr. Trenkler, Sammlung Sebastian Gulden Diese ungewöhnliche Perspektive vom Spittlertorgraben nahm 1907 die historische Bastei, verballhornt "Pastete" genannt, mit in den Blick.  

Wer mit dem Auto in der Nürnberger Altstadt unterwegs ist, braucht mitunter Nerven wie Drahtseile. Neben der Tatsache, dass die City selbst in der begradigten und ausgelichteten Fassung des Wiederaufbaus nicht für so viele und große Fahrzeuge gedacht ist, setzen Baustellen dem täglichen Chaos die Krone auf.

Klagen über "Verkehrswahn" schon vor 100 Jahren

Derzeit wird wieder an der Grabenbrücke am Fürther Tor gewerkelt. Denn die droht in die Grätsche zu gehen – eben wegen des Verkehrs. Den gestressten Fahrzeuglenkern wird nicht bewusst sein, dass sie hier vor und auf einem historischen Bauwerk stehen: Bis 1894 traf ein jeder, der die Lorenzer Altstadt über die Schlotfegergasse gen Westen verlassen wollte, im wahrsten Sinne des Wortes auf eine Mauer.

Was aussieht wie ein Kitsch-Exzess, war um 1905 durchaus nahe an der Realität. Die malerische Architektur des Ludwigstorzwingers war damals noch von üppiger Natur umrankt.  

Was aussieht wie ein Kitsch-Exzess, war um 1905 durchaus nahe an der Realität. Die malerische Architektur des Ludwigstorzwingers war damals noch von üppiger Natur umrankt.   © Georg Harren, Sammlung Sebastian Gulden

Quasi als eine der letzten Nachwehen der Stadtmauerdebatte der Jahrhundertmitte, während der man zeitweise ernsthaft den nahezu kompletten Abbruch des altehrwürdigen Befestigungsringes zu Gunsten des Verkehrs und der Neubebauung des Grabens erwogen hatte, schlug man hier noch einmal eine Furche in Nürnbergs größtes Baudenkmal. Und was für eine!

Eine "Pastete" aus Stein

Tatsächlich hatte der Tunnel unter dem Zwinger schon immer jene überdimensionierte Breite mit dem merkwürdigen stichbogigen Tonnengewölbe. Man hatte nämlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt: Denn die neuen Stadttore, die Bernhard Solger zwischen 1848 und 1859 eigens entworfen hatte, waren so schmal bemessen, dass man sie allesamt zum Ende des Jahrhunderts wieder schleifen musste.

Das Fürther Tor heute: Die hochgeschossenen Laubbäume verdecken im Graben die Ansicht weitgehend.

Das Fürther Tor heute: Die hochgeschossenen Laubbäume verdecken im Graben die Ansicht weitgehend. © Sebastian Gulden

Bei der neuen Maueröffnung an der Schlotfegergasse verzichtete man auf Sperenzchen im Stile der Neugotik und passte das Tor formal an die nüchterne Frührenaissance der benachbarten Bastion aus dem 16. Jahrhundert (ihrer flachen, gegen das Feld hin halbrunden Form wegen im Volksmund "Pastete" genannt) an. Diese war beim Tunnelbau erhalten geblieben, während der Stadtmauerturm "Rotes S" hatte fallen müssen. Wieder einmal hatte "leider der irregeleitete Verkehrswahn obsiegt", wie Otto Sarrazin und Oskar Hoßfeld 1898 im Zentralblatt der Bauverwaltung verbittert feststellten.


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So nimmt es kaum Wunder, dass der neue Mauerdurchlass, der zudem auf den Namen der hassgeliebten Schwesterstadt "Fürther Tor" getauft wurde, zumindest aus ästhetischer Sicht zunächst mäßig begeisterte. Gut, dass sich die Voreigentümerin des Zwingerabschnittes, die Freiherrlich Tucher’sche Gesamtfamilie, bei der Stadt das Recht ausbedungen hatten, über dem Tunnel eine Gaststätte bauen zu dürfen.

Konradin Walther, Nestor der Nürnberger Architektenszene und ausgezeichneter Kenner der lokalen Bautradition, fiel die Aufgabe zu, einen reizvollen Gegenpol zu dem maulartigen Schlund des Tunnelportals zu schaffen.

An der Stadtseite wirkt es so, als habe es die Gaststätte "Ludwigstorzwinger" nie gegeben. Immerhin: Dadurch fällt der Verlust weit weniger krass ins Auge als auf der Feldseite. 

An der Stadtseite wirkt es so, als habe es die Gaststätte "Ludwigstorzwinger" nie gegeben. Immerhin: Dadurch fällt der Verlust weit weniger krass ins Auge als auf der Feldseite.  © Sebastian Gulden

Er löste die Aufgabe, indem er das Tor 1897/1898 mit einem malerischen Restaurationsgebäude bekrönte, dessen zahlreichen Vorsprünge an den Fassaden und Dächern und die verschiedenen Wandoberflächen – Sandstein, Sichtfachwerk und Verputz – den Eindruck eines über die Jahrhunderte dort droben gewachsenen Bauwerkes erweckten. Zur Schlotfegergasse öffnete sich der große Gastraum, der durch einen Fahrstuhl mit dem Trottoir verbunden war, in eine durchfensterten Galerie mit neugotischem Schnitzwerk. Drinnen obwaltete Alt-Nürnberger Gemütlichkeit mit hölzernen Vertäfelungen, Glasgemälden und allem, was den Gast das geschäftige Verkehrstreiben drunten im Tunnel und auf der Straße vergessen ließ.

Im Zwinger Bier trinken, das geht bis heute

Nach ihrem ersten Pächter David Köchert hieß das Etablissement zunächst "Köchertszwinger", später – nach dem gen Süden folgenden Abschnitt des Stadtmauerzwingers – "Ludwigsthorzwinger". Der kluge Plan, auch die baumbestandenen Grünflächen auf den Befestigungsanlagen als Wirtsgarten gastronomisch zu nutzen, war genial, aber nicht neu: Vielmehr begann die Tradition der "Zwingerwirtschaften", die zunächst mangels großer Gasträume nur im Sommer betrieben wurden, schon Anfang des 19. Jahrhunderts. Neben dem Köcherts- oder Ludwigstorzwinger gehören der "Marientorzwinger", das "Tucherbräustüberl" am Kartäusertor und seit 1996 das "Krakauer Haus" zu den bekannten Vertretern dieser Nürnberger Form der Freiluft-Gastronomie.

Durch den rekonstruierenden Neubau der Wehrgänge in der Nachkriegszeit ist viel grüne Pracht verschwunden – und natürlich auch die prägnante Silhouette des Wirtshauses. Aber das kann wieder werden, in welcher Form auch immer.

Durch den rekonstruierenden Neubau der Wehrgänge in der Nachkriegszeit ist viel grüne Pracht verschwunden – und natürlich auch die prägnante Silhouette des Wirtshauses. Aber das kann wieder werden, in welcher Form auch immer. © Sebastian Gulden

Leider zog das beschauliche Wirtshaus am Fürther Tor mit seinem Alt-Nürnberger Gepräge schon früh zwielichtige Kundschaft an: Lange bevor die Nazis in Nürnberg und im ganzen Deutschen Reich an die Macht kamen, entwickelte sich das Etablissement zu einem Treffpunkt brauner Gesinnungsgenossen. 1922 gründete Julius Streicher dort in Anwesenheit Adolf Hitlers die Ortsgruppe der NSDAP.


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Die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs überstand der Bau – im Vergleich zu anderen Bauten der Altstadt – leidlich: Die Fachwerkteile und das Innere waren ab- oder ausgebrannt, die Mauern aus Sandstein standen noch aufrecht. Trotzdem musste die Ruine bald nach dem Krieg weichen, das Fürther Tor wurde gleichsam geköpft. Nur Teile des Mauersockels und die Konsole des Erkers an der Feldseite blieben erhalten.

An der Stadtseite setzte man – völlig unhistorisch – den Wehrgang der alten Mauer fort. Ob hinter dieser Entscheidung primär Sicherheitsbedenken und die ästhetische Ablehnung der Bauten des Historismus standen oder ob man damit eine Erinnerung an die rechtsextreme Vergangenheit aus dem Stadtbild tilgen wollte, ist nicht geklärt.

Torheiten des Wiederaufbaus

Das Ergebnis ist in jedem Falle zweifelhaft: Die kahle Mauerkrone des Fürther Tores mutet seitdem an wie das, was sie ist: eine Kriegsbrache. Für den Erhalt dieses Zustandes spricht wenig, dokumentiert er doch allenfalls die Torheiten des Wiederaufbaus und deren problematische Tendenz zu einfachen und nicht selten radikalen Lösungen für komplexe Probleme.

Gerade in den letzten Jahren hat es manch Vorschlag und konkrete Idee für eine neue Zwingerbebauung gegeben. Die einen wünschten sich eine Rekonstruktion des Walther’schen Entwurfs von 1897, die anderen eine Neuinterpretation in zeitgenössischer Form.

Kindergärten ziehen ein

Seit November 2020 nun gibt es endlich substanzielle Pläne: Der Neubau soll kommen und neue Heimstätte für zwei Altstadtkindergärten werden. Wie die neue Bekrönung des Fürther Tores aussehen wird, wird sich weisen – und gewiss für Debatten sorgen. Eines ist klar: An dieser prominenten Stelle hat Nürnberg – wie schon vor über 120 Jahren – die Chance, sich ein bauliches Denkmal zu setzen, das nützlich und bereichernd für das Stadtbild zugleich sein kann. Man möchte mahnen: Bitte, bitte verbockt es nicht!

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