Planetenring und Skulpturen

In der Parkwohnanlage Nürnberg-Zollhaus lebt die Architektur der Nachkriegszeit

26.3.2024, 15:00 Uhr
Diese Ansicht des zentralen Hochhauses von circa 1964 zeigt idealtypisch die von Bauherr und Planern gewünschte Verbindung von Parklandschaft, Architektur und Skulptur. 

© Ansichtskarte: Verlag Drogerie Nicklas (Sammlung Sebastian Gulden), NNZ Diese Ansicht des zentralen Hochhauses von circa 1964 zeigt idealtypisch die von Bauherr und Planern gewünschte Verbindung von Parklandschaft, Architektur und Skulptur. 

Alles begann im Jahre 1907, als eine Baugenossenschaft der Eisenbahner weit draußen im Süden der Stadt eine weitgehend autarke Siedlung für die Bediensteten des neuen Rangierbahnhofs zu errichten begann.

Wohnungen für 1500 Bedienstete

Binnen fünf Jahren entstanden nach Planung des Architekturbüros Lehr & Leubert in dem tropfenförmigen Stück Land zwischen den Gleisanlagen des Südbahnhofes und der heutigen Münchener Straße Wohnungen für rund 1500 Bedienstete der Bayerischen Staatsbahnen mit ihren Familien, mit eigenen Geschäften, Volksschule, Kindergarten und zwei Kirchen. Ein großartiges Werk genossenschaftlichen Siedlungsbaus und ein bayernweit bedeutsames Denkmal der Gartenstadtbewegung und der Reformarchitektur war geboren.

Angesichts dieses Vorbildes lag es nahe, dass die Nachkriegszeit diesem Ensemble eine Erweiterung von mindestens ebenbürtiger Qualität zur Seite stellen musste, freilich angepasst an die zeitgenössische Architektursprache, die Ansprüche an Wohnkomfort und Verkehrsgerechtigkeit.

Sauber und geordnet wie ein Architekturmodell wirkt diese Ansicht des nördlichen Astes des Saturnweges, fotografiert um 1964 vom Planetenring aus.

Sauber und geordnet wie ein Architekturmodell wirkt diese Ansicht des nördlichen Astes des Saturnweges, fotografiert um 1964 vom Planetenring aus. © Ansichtskarte: Verlag Drogerie Nicklas (Sammlung Sebastian Gulden, NNZ

Die Häuser am Saturnweg sind in Würde gealtert, die noch immer gepflegten Grünanlagen bereichern nun schattenspende hohe Laubbäume. 

Die Häuser am Saturnweg sind in Würde gealtert, die noch immer gepflegten Grünanlagen bereichern nun schattenspende hohe Laubbäume.  © Sebastian Gulden, NNZ

1957 fiel der Startschuss für die Beplanung des neuen Quartiers im Osten der Rangierbahnhof-Siedlung, die Mitte der 1960er Jahre zum Abschluss kam. Als gefördertes „Demonstrativbauvorhaben“ des Bundesministeriums für Wohnungsbau sollte es ein städtebauliches Leuchtturmprojekt und Versuchsfeld sein für die Wohnformen der Zukunft. Als Generalplaner gewannen die Eisenbahner den Architekten Gerhard Günther Dittrich, seinerzeit einer gefragtesten Männer seiner Zunft in Nürnberg.

Ein Planetenring für Autofahrer

Dittrich projektierte die Parkwohnanlage nach dem Prinzip der „autogerechten Stadt“: Durch eine Zufahrtstraße abgekoppelt von der Verkehrsachse Münchener Straße umrundet eine Ringstraße für den Anwohnerverkehr, der Planetenring, die zentrale Parkanlage. Er strahlt die teils ebenfalls als Ringe geführten Nebenstraßen aus, die nach der Sonne und den Planeten unseres Sonnensystems benannt sind.

Die an den organisch geführten Straßen ausgerichtete Bebauung ist ein Mix aus Geschosswohnbau in Zeilenbauweise, einem 16-stöckigen Punkthochhaus im Süden der Parkanlage, Reihenhäusern, deren versetzte Anordnung das Straßenbild belebt und einer Ladenzeile mit Geschäften des täglichen Bedarfs. Sichtklinker-, farbige Putz- sowie Sichtbetonwände und -stützen lockern die zeittypisch streng stereometrischen Kubaturen der Gebäude auf.

Wahrzeichen der Parkwohnanlage sind das futuristische Wasch- und Heizhaus und die von Leo Birkmann geschaffenen Straßenschilder. 

Wahrzeichen der Parkwohnanlage sind das futuristische Wasch- und Heizhaus und die von Leo Birkmann geschaffenen Straßenschilder.  © Sebastian Gulden, NNZ

Aus dem Rahmen fällt allein das fast schon skulpturenhafte Wasch- und Heizhaus mit seiner gewundenen, gerasterten Ostfassade und dem mit Kupferblech gedeckten Dach, das an beiden Schmalseiten und im Westen bogig bis zum Boden herabgezogen ist.

Apropos Skulptur: Hohe Bedeutung kam bei der Planung der künstlerischen Gestaltung der Siedlung zu. Während die Ladenzeile und die Kraftwagenhallen mit Mosaiken und Sgraffiti geschmückt wurden, bereicherten Helene Rößner-Böhnlein, Leo Birkmann, Leo Smigay und Werner Ramser den Park mit seinem Teich, Busch- und Baumgruppen um moderne Bildwerke aus Beton und Bronze. Von Birkmann stammen auch die in Nürnberg einzigartigen Straßenschilder aus Fertigbetonteilen mit bunten Mosaiken, die den Straßennamen und eine symbolische Darstellung des betreffenden Planeten zeigen.

Heute ist der Blick vom Park über den jetzt verlandeten Teich noch immer möglich, auch wenn die Botanik den Durchblick etwas erschwert.

Heute ist der Blick vom Park über den jetzt verlandeten Teich noch immer möglich, auch wenn die Botanik den Durchblick etwas erschwert. © Sebastian Gulden, NNZ

Wer heute durch die Parkwohnanlage spaziert, merkt schnell, dass der Zahn der Zeit und wohl auch Geldmangel an dem einst gefeierten Projekt genagt haben: Der zentrale Teich ist trockengelegt, vom Sgraffito von Jakob Dietz und Georg Mayer-Pröger an der Kraftwagenhalle nördlich des Hochhauses sind ganze Putzfladen abgefallen. Immerhin, an der lange leerstehenden Ladenzeile wird nun gewerkelt, neues Leben soll hier einziehen.

Ein Großprojekt der frühen Nachkriegszeit

Die Parkwohnanlage Zollhaus hat es in jedem Falle verdient, dass sie von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, von der Stadtgesellschaft geschätzt und von den Eigentümern erhalten wird. Sie war und ist ein Großprojekt von hoher städtebaulicher Qualität, das uns bis heute die guten und weniger guten Lösungen des Siedlungsbaus der frühen Nachkriegszeit vor Augen führt.

Sie ist im Ganzen als Ensemble geschützt, der Park, einzelne Gebäude und Denkmäler überdies als Baudenkmale. Wir dürfen gespannt sein, ob der neue Stadtteil Lichtenreuth, der in den nächsten Jahren auf dem Areal des aufgelassenen Südbahnhofes ganz in der Nähe entstehen soll, eine vergleichbare Qualität erreichen wird.

Mit diesem Artikel verabschiedet das Redaktionsteam von „Nürnberg – Stadtbild im Wandel“ Herrn Nikolaus Bencker, Leiter der Unteren Denkmalschutzbehörde der Stadt Nürnberg, in den wohlverdienten Ruhestand und bedankt sich für die vielen wertvollen Hinweise zu Nürnberger Baudenkmälern, die er uns über die Jahre gegeben hat!


Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: redaktion-nuernberg@vnp.de

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