
Erbauer bewies Weitsicht
Mietshaus zwischen Ställen: Einst machte sich im Dorf Nürnberg-Thon ein Fremdkörper breit
Die Bewohnerschaft von Thon wird nicht schlecht gestaunt haben, als Zimmermeister Michael Volland ihr im Jahr der Eingemeindung nach Nürnberg 1899 ein riesiges Mietshaus mitten in den alten Ortskern pflanzte. „Su a Gschmarri!“, wird der eine gedacht, der andere aber vielleicht geahnt haben, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Stadt das Dörflein im Grünen eingeholt haben würde. Und so kam es auch, wenngleich mit arger Verspätung von über drei Jahrzehnten.
In der Tat: Der Neubau war in dem Dorf, das bis dahin geprägt war von ein- bis zweigeschossigen Bauern- und Handwerkerhäusern mit Ställen, Scheunen, kleinen Werkstätten und zwei Gasthäusern ein Fremdkörper sondergleichen. Allein das 1898 errichtete Nachbarhaus Nr. 28 mit der Kneipe „Zum Knoblauchsland“ zeigte als zweistöckiger Sandsteinbau mit gotisierender Fassadengliederung und Giebel eine gewisse stilistische Verwandtschaft.
Das Haus erhielt zur Straße hin eine Erdgeschossfront aus Sandstein, während die übrigen Außenwände mit Ausnahme der Eckquaderung, der Gesimse und der Fensterrahmungen in den spägotisch-frührenaissanten Formen des Nürnberger Stils ebenfalls aus dem lokalen Leib-und-Magen-Haustein bestanden. Der Entwurfsverfasser – vielleicht Volland selbst – machte sich nicht die Mühe, die Wohnungen achsensymmetrisch zu gestalten. Vielmehr setzte er sie einfach baukastenartig nebeneinander, sodass die Fassade und die Gauben ein asymmetrisches, aber immerhin rhythmisches Bild ergeben. Im Süden führt eine Durchfahrt in den rückwärtigen Hof und zum Hauseingang am Treppenhausschacht.
Die etwas pfuschig zugemauerte Bereich im Norden des Erdgeschosses zeigt bis heute, dass die ideale Lage an der Hauptstraße – die Bundesstraße 6 führte bis 1966 durch den Thoner Ortskern – auch für Ladeninhaber sehr beliebt war. Wohl schon bei Bauvollendung eröffnete hier Georg Döblinger seine Spezereihandlung mit Wohnung nebenan. Die übrigen Einheiten belegten neben Bauherr Volland, der mit seiner Familie im ersten Stock residierte, Handwerker – ein Tüncher, ein Wäscher, ein Schreiner, ein Schuhmacher – mit ihren Lieben und die ledige Gemüsehändlerin Margarete Sippel.
Noch heute zeugt Vollands Mietshaus von den Veränderungen, die sich bereits bei der Eingemeindung Thons nach Nürnberg ankündigten. Leider schädigen auch an ihm die zweifelhaften Segnungen der Nachkriegszeit – lochartige Fenster, eine langweilige Putzhaut über den Ziegeln und Einhausungen aus Titanzinkblech auf den Gauben – den Gesamteindruck. Das Oberdach, vormals reiner Lagerraum, wurde in jüngerer Zeit für Wohnzwecke ausgebaut. Indes sind die optischen Störfaktoren nichts, was ein sensiblerer Hausbesitzer mit Leidenschaft, guten Handwerkern und Geld nicht wieder richten könnte. Dem allzu oft verkannten alten Ortskern von Thon tät‘ s sicher gut.
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