Fall 29 der Weihnachtsaktion

Seelische Abgründe: Im Julius-Schieder-Haus finden Menschen Rat, Beistand und Wärme

Isabel Lauer

Lokalredaktion Nürnberg

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15.12.2022, 10:02 Uhr
Anke Frers, die Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes, mit der langjährigen Besucherin Elisabeth und der ehrenamtlichen Helferin Gerlinde Klostermann (v.li.n.re.)

© Eduard Weigert Anke Frers, die Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes, mit der langjährigen Besucherin Elisabeth und der ehrenamtlichen Helferin Gerlinde Klostermann (v.li.n.re.)

Was Elisabeth widerfahren ist, was der Quell ihres lebenslangen Leidens an der Depression war, erfahren auch ihre Vertrauten nicht ohne Weiteres. Es war zu schlimm. "Ich kann niemandem zumuten, zu hören, was mir passiert ist. Ich würde ihm ja ein Trauma übertragen. Das erzähle ich höchstens dem Arzt."

Elisabeth sagt das mit einem Lächeln auf den Lippen am adventlich geschmückten Tisch im Julius-Schieder-Haus. Es gibt hier nicht viele Besucher wie sie, die sich ohne Scheu für ein Interview treffen lassen. In der Sandsteinvilla an der Pirckheimerstraße sitzt der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadtmission Nürnberg. Der sperrige Name meint: Die Einrichtung berät und begleitet seelisch Erkrankte und ihre Angehörigen.

"Ich habe mich in diesem Haus entwickelt", sagt Elisabeth. "Weil es mir etwas gibt, Wärme, Gemeinschaft. Das ist wie Nachhausekommen." 2003 traute sich die heute 73-Jährige zum ersten Mal durch die verzierte historische Tür. Seitdem kommt sie wieder. Sie nimmt an der Malgruppe teil, zweimal pro Woche bespricht sie sich mit einer Sozialpädagogin. Alltagsbegleitung heißt das offiziell, es bedeutet Hilfe bei Papierkram und Geldsorgen, aber auch beim Umgang mit der Traurigkeit.

"Mann muss sich nicht binden"

Es braucht keine Diagnose und keine Krankenversichertenkarte, um im Julius-Schieder-Haus Unterstützung zu bekommen, sagt Anke Frers, die Leiterin. "Man muss sich auch nicht binden, kann uns mal ausprobieren und wieder gehen." Die Nachfrage ist anhaltend hoch; rund 650 Menschen haben im Jahr 2021 Rat gesucht. 60 bis 80, schätzt Frers, nutzen regelmäßig die Gruppenangebote. Sie reichen von Frühstücken über Theater bis zu Sport oder Schach. Nur das Café pausiert noch wegen der Pandemie. "Wir versuchen, Lebensqualität zu schaffen. Und wir feiern auch einfach gern."

Zu den Besonderheiten gehört, dass Ehrenamtliche die Einrichtung entwickelten und bis heute prägen. 25 Aktive sind noch dabei; Verstärkung wird gesucht. Entstanden war der Dienst aus der privaten Initiative einer Klinikums-Mitarbeiterin und der Frau des Stadtmission-Vorstands. Sie öffneten einen Kaffee-Club für psychisch Kranke, die seinerzeit entweder in Kliniken verwahrt waren oder sich laut öffentlicher Meinung "gefälligst zusammenreißen" sollten.

"Junge Menschen werden offener"

Behandlungsmöglichkeiten und Aufklärung haben sich erweitert, aber: "Gesamtgesellschaftlich bleiben psychische Erkrankungen ein schwieriges Thema", stellt Anke Frers fest. "Junge Menschen werden deutlich offener dafür. Ich verstehe trotzdem jeden Klienten und jede Familie, die es sich sehr gut überlegen, wem man davon erzählt. Gute Resonanz ist selten." Dabei könne jede und jeder daran erkranken. Während die Depression schon eher toleriert werde, träfen Psychosen und Schizophrenien auf Angst und Vorurteile.

Das bedauert auch Gerlinde Klostermann, die zu den langjährigsten Ehrenamtlichen zählt. 1994 stieg die frühere Industriekauffrau ein. Die ersten Besuche verunsicherten sie enorm, erinnert sie sich. Wer war eigentlich krank, wer nur kantig? Oder gesund, aber seltsam? Man sieht den Menschen ihre Seelen nicht immer an.

Tragisches und auch mal Ärgerliches

"Ich habe sehr viel für mich gelernt, auch für den Beruf, und wurde oft auf den Erdboden zurückgeholt", sagt die 77-Jährige. "Das macht mich dankbar." Jeden Dienstag leitet Klostermann einen Spieleabend. "Wir quatschen dazu, machen auch mal Blödsinn. Über die Erkrankungen sprechen wir bewusst nicht." Tragisches habe sie hier erlebt, Ärgerliches. Aber auch einen respektvollen Umgangston.

Solche Freizeitprogramme, auch die beliebten Tagesfahrten, fußen auf Geldspenden. "Unsere Gruppenarbeit ist ein finanzieller Kraftakt", sagt Leiterin Anke Frers. Dabei bilden die überwiegend von Freiwilligen organisierten Angebote oft gerade jenen Puffer, der einen Kriselnden vor dem Absturz bewahren kann.

Elisabeth, der Stammgast, ist froh, seit mehr als 15 Jahren nur mit ambulanter Behandlung auszukommen. In der Villa mit der gemütlich knarzenden Holztreppe hat sie gelernt, ihre Stimmung auszudrücken und sich wieder zu freuen. Neulich schenkte ihr die Männergruppe ein selbst gebautes Solarmodul für die Fensterbank. Das fängt Sonne ein und liefert Strom für Handy und Uhr. "Das macht einen richtig glücklich." Das Schieder-Haus, ein Lichtblick.


Kontakt: (0911) 9359555, spdi@stadtmission-nuernberg.de

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