Vor 40 Jahren: Die lange Nacht der "Nürnberger Massenverhaftungen"

6.3.2021, 14:23 Uhr
Die Polizei hat in der Nacht zum 6. März das Komm umstellt. 

© Hafenrichter Die Polizei hat in der Nacht zum 6. März das Komm umstellt. 

Als Siegfried Kett am frühen Morgen des 6. März vor 40 Jahren das Radio einschaltet, hört er Unheilvolles: "Man hat gedacht, Nürnberg liegt in Schutt und Asche", erinnert sich der heute 81-Jährige, der damals das städtische Amt für Kultur und Freizeit leitete. Im Zusammenhang mit einer gewalttätigen Demonstration soll es in der Altstadt zu schweren Verwüstungen gekommen sein.

Kaputte Scheiben

Tatsächlich sind lediglich einige Schaufensterscheiben zu Bruch gegangen. Aber dennoch geht diese Nacht in die Geschichte ein – noch heute spricht man von den "Nürnberger Massenverhaftungen". Das zum Kulturamt gehörende, aber von jungen Leuten in Selbstverwaltung geleitete Kommunikationszentrum (Komm) gerät in die Schlagzeilen.

Was war passiert? Im Komm, dem heutigen Künstlerhaus, ist in jener Zeit neben vielen anderen Gruppen auch die örtliche Hausbesetzerszene heimisch geworden. Am Abend des 5. März 1981 sehen sich die Aktivisten, die das Thema Wohnungsnot umtreibt, im Festsaal eine Dokumentation über Besetzung von Häusern in den Niederlanden an.

Spontane Demonstration

Anschließend, es ist inzwischen nach 22 Uhr, ziehen circa 150 Komm-Gäste in einem spontanen Demonstrationszug durch die Innenstadt. Einzelne Teilnehmer schaukeln ein Polizeiauto, das rasch wegfährt, schmeißen Schaufensterscheiben ein oder knicken Autoantennen ab. Andere mahnen sie, so etwas zu unterlassen. Der Sachschaden liegt zwischen 20.000 und 30.000 Mark. Gustav Roeder, damals Chefredakteur der NZ, ist zufällig Augenzeuge – das nächtliche Nürnberg sei nicht in den "Händen des Mobs" gewesen, notiert er später.

Gebäude abgeriegelt

Die Polizei begleitet den Zug, macht aber die einzelnen Übeltäter nicht dingfest. Stattdessen riegelt sie das Gebäude ab, nachdem der Pulk ins Komm zurückgekehrt war. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Egon Lutz eilt herbei. Seine Tochter Petra war nicht bei der Demo dabei, hat aber an jenem Abend das Komm besucht und sitzt damit nun auch in dem belagerten Haus fest. So geht es rund 70 anderen, die im Jugendzentrum den Schreinerkurs besuchten, Billard oder Schach spielten.


Zeitzeugen erinnern sich an die Massenverhaftungen


Die jungen Leute verlassen nach der Vermittlung von Lutz um 3.30 Uhr das Haus. 164 werden in Arrestzellen gesteckt, für 141 von ihnen werden gleichlautende, kopierte Haftbefehle wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr nach Landfriedensbruch ausgestellt. Der Spiegel spricht von der "größten Massenverhaftung seit dem Ende des Dritten Reichs". 21 Betroffene sind minderjährig, unter anderem die 17-jährige Petra Lutz. Sie werden auf diverse bayerische Gefängnisse verteilt, viele berichten später von entwürdigenden Haftbedingungen. Christiane Schleindl, damals Komm-Mitarbeiterin und heute im Filmhaus beschäftigt, sagt, dass viele unschuldig Inhaftierte lange auf eine Entschuldigung gewartet hätten. Vergeblich.

"Wie in Südamerika"

Auch für die Eltern der jungen Leute ist es eine schwierige Situation, sie bleiben bis zu vier Tage ohne Nachricht. "Sind wir denn hier in Südamerika?", sagt eine Mutter, die auf die damaligen Zustände in Argentinien anspielt, wo während der Zeit der Militärjunta (1976 bis 1983) Regimegegner spurlos verschwinden.

Dass Polizei und Justiz mit den Massenverhaftungen völlig überzogen haben, rechnen ihnen die Medien rasch vor. Im Spiegel wird Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch zitiert, der darlegt, dass am Einwerfen von sechs Scheiben schlecht 141 Personen beteiligt gewesen sein können. In den NN findet sich schon in der Ausgabe vom 7. März 1981 ein ähnliches Rechenexempel. Sippenhaft für alle Demo-Teilnehmer verbietet das Gesetz seit 1970.

Der Abtransport der Festgenommenen.

Der Abtransport der Festgenommenen.

"Krawallmacher" in Schranken gewiesen

Bayerns Innenminister Gerold Tandler (CSU) dankt gleichwohl der Polizei für ihren Einsatz: "Krawallmacher wissen jedenfalls, woran sie in Bayern sind." Das politische Klima der frühen 1980er Jahre ist aufgeheizt, in Städten wie Berlin oder Freiburg hatte es Kämpfe zwischen Polizei und Hausbesetzerszene gegeben.


Michael Popp über das Nürnberger "Komm"


Kampf um Deutungshoheit

Diese sei in Nürnberg gar nicht besonders stark gewesen, erinnert sich Zeitzeuge Kett. Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) kündigt jedoch an, im Freistaat hart durchzugreifen. "Man wollte ein Exempel statuieren", sagt Egon Lutz kurz vor seinem Tod im Jahr 2011 im Gespräch mit der NZ. Es sei bedauerlich, dass sich die örtliche Polizei dafür habe instrumentalisieren lassen.

Auch für Kett ist die Geschichte der Massenverhaftungen die eines "Justiz- und Polizeiskandals".
Im März 1981 steht freilich noch nicht fest, dass die Untersuchungen ergebnislos verlaufen werden. In der Stadt entbrennt ein heftiger Streit um die Deutungshoheit der Geschehnisse. Kett erzählt, dass der aus der Fernsehshow "Was bin ich?" bekannte Oberstaatsanwalt Hans Sachs aus der evangelischen Kirche ausgetreten sei, weil die sich hinter die jungen Leute gestellt habe. "Ich war nicht mehr in der Kirche. Aber deshalb bin ich wieder eingetreten."

Im Stadtrat fliegen die Fetzen

Gegen Ketts Chef, Kulturreferent Hermann Glaser (SPD), werden Rücktrittsforderungen laut; im Schulausschuss des Stadtrats gerät er so mit CSU-Mann Alfred Lösch aneinander, dass Glaser und die SPD-Räte den Raum verlassen. Auch im Stadtrat fliegen die Fetzen.


Die Nacht der Unerbittlichkeit


Die Konservativen werfen Glaser vor, im Komm Veranstaltungen zuzulassen, die zur Gewalt aufrufen. Oberbürgermeister Andreas Urschlechter (damals noch SPD) beteiligt sich kaum an den Debatten, hält aber an Glaser fest – und auch am Komm. Dessen Ende ist erst nach dem Wahlsieg der Konservativen im Jahr 1996 besiegelt. Kett räumt im Rückblick ein, dass das Jugendzentrum eine gewagte Konstruktion gewesen sei – eine städtische Trägerschaft könne mit basisdemokratischer Selbstverwaltung nicht vereinbart werden.

Pannen und Rechtsverstöße

Während der Stadtrat streitet und sich Land- und Bundestag mit den Geschehnissen befassen, kommen die Gefangenen allmählich frei, nach vier Tagen die ersten 22, darunter Petra Lutz. Das Verfahren begleiten neben Rechtsverstößen auch diverse Pannen, am 22. Dezember 1982 wird es ohne Ergebnis eingestellt. Die Steinewerfer werden nie ermittelt. Ein junger Mann kommentiert seine Freilassung so: "Ich habe nicht gewusst, warum ich ins Gefängnis gekommen bin, und jetzt weiß ich nicht, warum ich entlassen wurde."

Zum Thema entstanden etliche Dokumentationen, die hier zu finden sind.

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