Eines der bedeutendsten Gotteshäuser Nürnbergs

Zuerst genialer Bausatz, dann verhinderter Monumentalbau: die Geschichte der Martinskirche

21.11.2023, 11:00 Uhr
Diese Vogelschau von etwa 1933 (li.) zeigt die Martinskirche nach dem Entwurf von Hans Saueressig.  Die heutige Martinskirche (re.) wurde nach einem Entwurf von Rolf Behringer gebaut. Eigentlich sollte sie völlig anders aussehen. 

© Ansichtskarte: Andro-Verlag (links)/Foto: Sebastian Gulden (rechts) Diese Vogelschau von etwa 1933 (li.) zeigt die Martinskirche nach dem Entwurf von Hans Saueressig.  Die heutige Martinskirche (re.) wurde nach einem Entwurf von Rolf Behringer gebaut. Eigentlich sollte sie völlig anders aussehen. 

"Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind!“, schallte (bisweilen krähte) es am vorletzten Samstag wieder durch manch Nürnberger Straße, während kleine Sangeskünstler ihre selbstgebastelten Laternen durch den Herbstabend trugen.

Besonders gut besucht war wieder einmal der Umzug vom Kobergerplatz zur katholischen Kirche in der Rollnerstraße. Sie ist das einzige Gotteshaus unserer Stadt, das dem heiligen und als mildtätig verehrten Bischof von Tours geweiht ist.

Mehr als ein Jahrhundert Geschichte

Die Geschichte der Gemeinde begann vor über einem Jahrhundert. Damals war die Gegend zwischen dem Maxfeld, den Gärten und Großreuth hinter der Veste noch eine locker bebaute Zwischenstadt, in der freistehende Gruppen von Mietshäusern, einige wenige Fabriken, Acker- und Gartenland einander abwechselten. Bereits 1890 hatten die hiesigen Lutheraner in der Hausnummer 100 ihr erstes eigenes Gotteshaus, die Matthäuskirche, einweihen können.

Diese Ansichtskarte von etwa 1933 zeigt neben der Modulkirche von Hans Saueressig das jüngst fertiggestellte Pfarrhaus und das Pfarrheim an der Grolandstraße. Diese entstanden schon nach den Plänen von Clemens Holzmeister. 

Diese Ansichtskarte von etwa 1933 zeigt neben der Modulkirche von Hans Saueressig das jüngst fertiggestellte Pfarrhaus und das Pfarrheim an der Grolandstraße. Diese entstanden schon nach den Plänen von Clemens Holzmeister.  © Sammlung Sebastian Gulden, NNZ

1917 zogen die Katholiken mit einer Notkirche nach, die Baumeister Hans Saueressig entworfen hatte. Wobei der Begriff „Notkirche“ der Genialität des Entwurfs nicht gerecht wird: Es handelte sich nämlich um ein frühes Beispiel der Modulbauweise, denn die Kirche bestand im Wesentlichen aus vorgefertigten Einzelteilen aus Fachwerk mit Ausfachung Holzlatten und einer Dämmung aus Eternit (dessen hochgradig krebserregende Wirkung damals freilich noch nicht bekannt war).

Außerdem machte der Bau ordentlich was her, besaß er doch die klassische Form einer Basilika mit Seitenschiffen, einen eingezogenen Chor mit polygonalem Schluss und einen Glockenturm mit Zeltdach von durchaus respektabler Höhe.

Die alte Kirche reichte nicht mehr aus

Allein, für die beständig wachsende Zahl von Gläubigen reichte die Kirche aus dem Bausatz bald nicht mehr aus. Wegen der nunmehr neuralgischen städtebaulichen Lage lobte die Gesellschaft für Christliche Kunst 1926 eigens einen Architektenwettbewerb aus, der unter Fachleuten großes Interesse entfachte. Neben Fritz Fuchsenberger und Albert Boßlet sendete auch Gustav Gsaenger Entwürfe ein.

Wahrhaft monumental zeigte sich Clemens Holzmeisters Entwurf für die neue Martinskirche anno 1926. Allein, der Plan kam so nie zur Ausführung. 

Wahrhaft monumental zeigte sich Clemens Holzmeisters Entwurf für die neue Martinskirche anno 1926. Allein, der Plan kam so nie zur Ausführung.  © Zeichnung: Clemens Holzmeister, NNZ

Den ersten Preis aber räumte der gebürtige Tiroler Clemens Holzmeister mit seinem Projekt „Scholle“ ab. Schon damals zählte der junge Architekt zu den renommiertesten Kirchenplanern seiner Zeit. Nach seinen Plänen wurden denn auch 1926 bis 1927 das Pfarrhaus mit Kindergarten an der Grolandstraße errichtet.

Eine monumentale "Gottesburg"

Mit dem reduzierten Heimatstil dieser Bauten hatte sein preisgekrönter Entwurf für Neu-St. Martin indes wenig zu tun: Holzmeisters Vision war ein Monumentalbau im Geiste einer modernisierten und auf die Grundformen reduzierten Romanik mit Doppelturmfront und dazwischen eingespanntem Triumphbogen sowie einem weiteren, asymmetrischen Turmaufbau über dem Chor. Darunter sollte eine viergeschossige Arkatur, die verdächtig an den (gleichwohl viel später erbauten) Palazzo della Civiltà Italiana in Rom erinnerte, den Altarraum abschließen.

Der Entwurf atmete den Geist der so genannten „Gottesburgen“, die in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen geradezu sinnbildlich standen für den Rückzug der Gläubigen in Gottes „feste Burg“.

Eine monumentale Arkatur mit eingestellten Engelsfiguren sollten nach Holzmeisters Willen den Chor der neuen Martinskirche abschließen. 

Eine monumentale Arkatur mit eingestellten Engelsfiguren sollten nach Holzmeisters Willen den Chor der neuen Martinskirche abschließen.  © Zeichnung: Clemens Holzmeister, NNZ

Heute zeigt sich der Kirchenraum der Martinskirche im Gewand des Wiederaufbaus, bereichert um farbenfrohe und gleichzeitig mystische Bildkunst des Malers Oskar Koller. 

Heute zeigt sich der Kirchenraum der Martinskirche im Gewand des Wiederaufbaus, bereichert um farbenfrohe und gleichzeitig mystische Bildkunst des Malers Oskar Koller.  © Sebastian Gulden, NNZ

Man ahnt es fast: Die Pläne erwiesen sich rasch als zu hochtrabend. Und so kam der unter der Feder von Rolf Behringer deutlich abgespeckte Entwurf, wie wir ihn heute sehen, 1934 bis 1935 zur Ausführung.

Doch auch der weiß zu beeindrucken durch seine monumentalen stereometrischen Formen und die Fassaden aus leuchtend rotem Klinker, die nur hie und da durch Elemente aus Haustein aufgelockert werden. Saueressigs Bausatzkirche kam unterdessen nach Schniegling, wo sie – leicht verändert – ihren Dienst bis zur Kriegszerstörung 1945 verrichtete.

Aufbau und Wiederaufbau

Doch auch Neu-St. Martin verschonte der Bombenkrieg nicht. Wiederum oblag Rolf Behringer der Wiederaufbau, der 1948 zum Abschluss kam. Während das Äußere so wiedererstand, wie es dereinst geplant worden war, erfuhr das völlig ausgebrannte Innere manche Veränderung.

Und auch die Neugestaltung der 1940er Jahre ist seit der letzten großen Renovierung 1980 bis 1981 weitgehend Geschichte, da der Maler Oskar Koller den nüchternen Raum um Gemälde von mystischer Lichtstimmung und farbige Wandfassungen bereichert hat.

Aber gerade diese Wandlungen sind es, die der Martinskirche ihr unverwechselbares Gesicht geben und ihre Geschichte erfahrbar machen. Die kleinen Laternengänger kümmert’s wohl nicht, denn die genießen einfach die wundervolle Stimmung der leuchtenden Laternen in der Dunkelheit der Herbstnacht. Und manch einer denkt vielleicht an den Heiligen Martin, der da "ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind . . ."


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