
Analyse des Chefredakteurs
Vier Dinge, die der neue Regierungschef Friedrich Merz noch lernen sollte
Bereits am Abend des Chaos-Wahltages im Bundestag war Friedrich Merz sichtlich bemüht, die Geschehnisse rund um den gescheiterten ersten Wahlgang als Betriebsunfall abzutun. Verständlich, jedoch zu kurz gegriffen. Denn der 6. Mai 2025 wird in den parlamentarischen Geschichtsbüchern seinen festen Platz finden. Noch nie zuvor seit 1949 war bei einer Kanzlerwahl ein zweiter Wahlgang erforderlich. Vier Dinge sollte Merz aus dem Auftaktdesaster lernen. Eine Analyse von Chefredakteur Michael Husarek.
Der Führungsstil
Merz ist 69 Jahre alt. Das muss kein Malus für den Job des Regierungschefs sein. Doch darf das Alter auch kein Grund sein, einen Führungsstil, der seine besten Zeiten in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebt hat, in der Gegenwart an den Tag zu legen. Der CDU-Chef neigt zum allzu deutlichen Abkanzeln seiner politischen Gegner. Diese Art eines wenig wertschätzenden Umgangs mag in der ein oder anderen hitzigen Debatte im Bundestag eine lässliche Sünde sein, als alltagstaugliches Kommunikationsmittel hat diese Art der Ansprache ihre besten Zeiten hinter sich.
Gefragt sind heute Einfühlungsvermögen, Teamfähigkeit und Zuhören. In allen drei Punkten hat Merz noch Potential nach oben. Die Auftaktpleite könnte, ja sollte zu einem Umdenken bei ihm und seinem Umfeld führen. Auch mit 69 Jahren ist eine Lernkurve möglich, Merz hat als Bundeskanzler alle Chancen, es kommunikativ besser zu machen als sein Vorgänger Olaf Scholz - er muss sie nur nutzen.
Mit Blick auf die immerhin 18 Abweichler, die Merz im ersten Wahlgang die Stimme verweigert haben, wäre ein anderer Umgangston im ein oder anderen Fall eventuell auch hilfreich gewesen. Auch, wenn wir nicht wissen, wer dem Sauerländer die Zustimmung verweigert hat, liegt es doch sehr nahe, persönliche Verletzungen als möglichen Grund anzunehmen.
Die doppelte Brandmauer
Einen anderen, ebenfalls wichtigen Wandel sollte Merz nach dem 6. Mai verinnerlichen. Bislang galt innerhalb weiter Teile der Union die doppelte Brandmauer. Sprich: Es soll keine Kooperation mit dem rechten Rand, also der AfD, geben, gleiches galt für die Linke. Spätestens seit den konfusen Stunden nach dem ersten Wahlgang ist klar: Die Brandmauer zur Linken ist eingestürzt.
Denn nur das Zusammenwirken der demokratischen Kräfte im Bundestag hat eine Zweidrittel-Mehrheit für die nötige Geschäftsordnungsänderung für den noch am 6. Mai erfolgten zweiten Wahlgang ermöglicht. Zwar hätte es diese Mehrheit auch mit den Stimmen der AfD gegeben, nur wäre es für Merz und die Union kaum vermittelbar gewesen, erneut auf die Hilfe der seit kurzem als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften Partei angewiesen zu sein.
Die Kooperation mit der Linken war also zwingend erforderlich. Und sie wird es auch im Lauf dieser Legislaturperiode weiterhin sein: Denn nur im Verbund von Union, SPD, Grünen und Linken wird es Zwei-Drittel-Mehrheiten, wie sie etwa für Grundgesetzänderungen notwendig sind, geben können.
Die nach dem Mauerfall durchaus nachvollziehbar hochgezogene Brandmauer zu Nachfolgegruppierungen der ehemaligen SED hat 35 Jahre später ihre Bedeutung verloren. Man muss die politische Agenda der Linken nicht teilen, insbesondere wenn es um außenpolitische Grundwerte geht, doch eines sollten auch CDU und CSU verstehen: Demokratiefeinde sind in dieser Partei gewiss nicht tonangebend.
Die doppelte Brandmauer gibt es seit dem 6. Mai de facto nicht mehr, nun fehlt noch der Mut, diese Realität auch offiziell anzuerkennen. Die nächste Herausforderung für Friedrich Merz.
Geld ist kein Allheilmittel
Und gleich noch eine Hürde gesellt sich dazu: Merz und die anderen Spitzenvertreter dieser Koalition müssen begreifen, dass Geld allein nicht glücklich macht. Eigentlich eine Binse, die angesichts der Milliardenspritze dank zweier Sondervermögen allerdings etwas aus den Augen verloren wurde.
Eine Billion als Starterkit ist eine enorme Summe. Eine, die Schwarz-Rot in vielen Fällen das Leben deutlich leichter machen wird als etwa der Vorgängerregierung. Und doch trägt auch das viele Geld im Zweifelsfall nicht dazu bei, ideologische Gräben zu schließen. CDU-Chef Merz und sein SPD-Pendant Lars Klingbeil haben sich wohl, dieser Eindruck drängt sich auf, zu sehr auf die Wirkungsmacht der Euroscheine verlassen - und dabei den Blick für die ein oder andere Verärgerung in den eigenen Reihen verloren.
Gibt es etwa grundsätzliche Differenzen über den Mindestlohn oder die Zukunft des Bürgergelds, trösten Sondervermögen eben nicht. Vielmehr muss mit den Protagonisten aus beiden Lagern gesprochen werden. Das mag mühsam und zeitraubend sein, gleichwohl gibt es dazu keine sinnvolle Alternative. Zu glauben, dass jeder Seite weitere Zugeständnisse gemacht werden können, um (Koalitions-)Frieden zu stiften, wäre jedenfalls naiv.
Und das Geld ist auch endlich. Schon die im Koalitionsvertrag festgezurrten Sonderlocken (Mütterrente, Agrardiesel usw.) werden viele Milliarden verschlingen. Merz muss verstehen, dass das viele Geld den Start ins Regieren erleichtert, die Alltagsmühen des Interessensausgleichs jedoch nicht kompensieren kann.
Die Bundesregierung ist keine AG
Merz ist Deutschlands oberster Lieferant. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, nach all dem Wahlkampfgetöse: „Vom ersten Tag an liefern wir.“ Solche und so ähnliche Aussagen waren in den letzten Wochen oft zu hören. Nun ist ein funktionierender Lieferdienst nie verkehrt, allerdings (siehe oben die Passagen zur Kommunikation) bleibt dabei die Gefühlsebene auf der Strecke.
Gut gemachte Politik liefert nicht nur, sie nimmt die Menschen auch emotional mit. Derzeit, leider muss das konstatiert werden, gelingt diese Ansprache den Populisten und Rechtsextremisten besser als Union und SPD. Daran zu arbeiten, lohnt nicht nur, vielleicht kommt einer griffigen Erzählung sogar mehr Bedeutung zu als dies nüchterne Berufspolitiker wahrhaben wollen.
Wer im Gedächtnis kramt, stößt etwa auf den „Mehr Demokratie wagen“-Slogan von Willy Brandt. Auch Merz müsste etwas mehr wagen. Gutes Regieren ist eben mehr als die Zustellung.
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