"Kleeblatt"-Prinzip aktiviert

Bayerns Intensivstationen vor dem Kollaps: Fliegt die Bundeswehr jetzt Patienten aus?

24.11.2021, 12:15 Uhr
Der sogenannte "MedEvac" der deutschen Luftwaffe kam 2020 etwa nach einer verheerenden Explosion in Beirut zum Einsatz, um schwerverletzte Menschen zu transportieren. 

© Kevin Schrief/Luftwaffe/dpa Der sogenannte "MedEvac" der deutschen Luftwaffe kam 2020 etwa nach einer verheerenden Explosion in Beirut zum Einsatz, um schwerverletzte Menschen zu transportieren. 

Der Nabel der Intensivversorgung Bayerns liegt derzeit am Nürnberger Hafen. Hier, in der Integrierten Leitstelle, kurz ILS, laufen in diesen besonders dramatischen Tagen der Pandemie alle Fäden zusammen. Am Dienstag wurde die sogenannte Kleeblatt-Konferenz aktiviert - sie soll Kliniken vor dem Kollaps bewahren und den Transport von Covid-Patienten quer durch Deutschland möglich machen. Die ILS Nürnberg ist dabei bayernweit für die Koordinierung zuständig.

"Seit Wochen gibt es Ausgleichsverlegungen, besonders von Süd nach Nord, etwa von Niederbayern nach Franken", sagt Marc Gistrichovsky, Leiter der ILS. "Aber irgendwann ist eine Stufe erreicht, in der die Mittel innerhalb Bayerns auf absehbare Zeit nicht ausreichen werden." Genau das sei jetzt der Fall. Für Intensivpatienten bedeutet das: Sie könnten schon bald statt in Nürnberg in Kiel, Hannover oder Rostock landen. Der Kleeblatt-Plan rollt an.

"Kleeblatt"-Prinzip kommt erstmals zum Einsatz

Das System, das erst vergangenes Jahr von Bund, Ländern und Medizinern entwickelt wurde, kommt erstmals zum Einsatz. Das Prinzip ist einfach: Mehrere Regionen bilden ein einzelnes Kleeblatt, Bayern und Nordrhein-Westfalen besetzen als bevölkerungsreichste Länder jeweils ein Blatt. Droht in einem der insgesamt fünf Kleeblätter der Kollaps, springt ein anderes ein - und nimmt Patienten auf. Über sogenannte "Single Points of Contact" kommunizieren die Kleeblätter, ein Krisenstab tagt regelmäßig. "Der Vorteil ist einerseits die Geschwindigkeit", sagt Herrmann Schröder, Vorsitzender des zuständigen Arbeitskreises der Innenministerkonferenz, "aber auch die Qualität". Denn: Der Gesundheitszustand der Patienten fließt detailliert in die Lagebewertung ein.

Schon ab Donnerstag, das bestätigt Schröder, werden 85 Menschen aus dem Osten und Süden Deutschlands in andere Teile der Republik verlegt. In Bayern geht es demnach wohl um rund 50 Intensivpatienten. "Die Länder fassen derzeit zusammen, wer verlegt werden muss", erklärt Schröder. Dabei spielt neben der Logistik auch der Gesundheitszustand eine Rolle. "Sind sie in einem kritischen Zustand, macht es keinen Sinn, Menschen über weite Strecken zu transportieren."

Eine Schlüsselrolle spielt das Robert-Koch-Institut. Ein Krisenstab erstellt regelmäßig Analysen, in welchen Regionen Deutschlands der Klinik-Kollaps droht - und wo nicht. "Anhand dessen soll prognostiziert werden, wer nicht schon in wenigen Wochen an seine Grenzen stößt", sagt Gistrichovsky. "Es würde keinen Sinn machen, nach Baden-Württemberg zu verlegen, die selbst kurz vor dem Limit sind." Realistischerweise, sagt der ILS-Leiter, gehen alle Transporte in den Norden, etwa nach Schleswig-Holstein, aber auch in Teile Niedersachsens oder Nordrhein-Westfalens.

"Fliegende Intensivstation" der Luftwaffe

Das größte Problem ist die Logistik. Rettungsdienste besonders in Bayern sind ohnehin am Limit, die Kapazitäten sind erschöpft. Sie müssen Covid-Erkrankte teils stundenlang durch den Freistaat fahren, um freie Intensivplätze zu finden. Deshalb könnte auch die Bundeswehr zum Einsatz kommen. Das Verteidigungsministerium bereitet sich vor, mehrere Hundert Soldaten stehen zur Verfügung. Die ersten Patienten aus Bayern könnten etwa mit dem sogenannten MedEvac in den Norden gebracht werden. Die Spezialflugzeuge der Luftwaffe sind eine Art "fliegende Intensivstation", sagt Gistrichovsky. In dem Airbus A400M können bis zu sechs Patienten intensivmedizinisch auch in Tausenden Metern Höhe versorgt, vier davon sogar künstlich beatmet werden.

Der Transport von Flughafen zu Flughafen ist aber nur ein Teil des Kraftaktes. "Die Patienten müssen mit Intensivtransporten hingebracht und dann auf Zielkliniken verteilt werden", sagt Gistrichovsky. Der Aufwand ist gewaltig. Das Bayerische Rote Kreuz (BRK) kündigt an, "nach Kräften zu unterstützen und notwendige Kapazitäten zur Verfügung zu stellen", erklärt Sprecher Sohrab Taheri-Sohi. Die Aktivierung des Kleeblatt-Verfahrens sei "die logische Konsequenz", man erhoffe sich eine Entspannung an den Kliniken im Freistaat. Gleichzeitig aber dämpft das BRK die Erwartungen. "Für einen bayerischen Patienten, der in ein anderes Bundesland verlegt werden muss, stellt das Verfahren eine extreme Belastung dar", sagt Taheri-Sohi. "Angesichts der sehr angespannten Lage ist das aber unumgänglich."

Dass das Kleeblatt-Prinzip allein die Krise auf den Intensivstationen löst, bezweifeln selbst Experten. Auch Schröder, Leiter des Arbeitskreises innerhalb der Innenministerkonferenz, rechnet in den kommenden Wochen mit weiteren überregionalen Verlegungen. "Das System funktioniert auch nur so lange, wie Aufnahmekapazitäten verfügbar sind." Wenn Krankenhäuser also deutschlandweit überfüllt sind, stößt das Kleeblatt an seine Grenzen. Ohnehin ist das Prinzip nur auf Solidarität aufgebaut: Die Kliniken können aufnehmen, sie müssen es aber nicht.

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