Zu schwach für das Leben

Abschied von Sternenkindern: Forchheimerin hilft Eltern beim Trauern

1.11.2019, 07:54 Uhr
Abschied von Sternenkindern: Forchheimerin hilft Eltern beim Trauern

© Foto: privat

"62 Jahre lang habe ich nach meinem fehlenden Stück gesucht. Als ich 21 Jahre alt war, sagten sie mir, es sei das Beste so gewesen. Ich habe so sehr versucht das zu glauben. Als ich 21 Jahre alt war, habe ich geweint und sie haben mir gesagt, ich sollte mich zusammennehmen. Ich habe so sehr versucht, das zu glauben... Ich habe so sehr versucht, aufzuhören..."

Das ist der Beginn eines Briefes, den eine 83-Jährige zur Verarbeitung eines Erlebnisses geschrieben hat, das 62 Jahre zuvor stattgefunden hatte: Mit 21 Jahren hatte sie ihr Ungeborenes verloren – und seitdem nie die Gelegenheit bekommen, ihren Verlust, ihr Sternenkind, zu betrauern. Sternenkind, ein Begriff, den es damals wohl noch nicht gegeben hat. Heute steht er poetisch für Kinder, die den Himmel erreicht haben, bevor sie das Licht der Welt erblicken durften. Und juristisch für diejenigen, die unter 500 Gramm wogen - zu klein und zu schwach fürs Leben.

Abschied von Sternenkindern: Forchheimerin hilft Eltern beim Trauern

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Sternenkind steht auch für eine Trauerkultur, die sich zwar langsam entfaltet, inzwischen aber einen festen Platz hat. Alexandra Kreller liegt sie besonders am Herzen. Weil sie in ihrer Arbeit als Stationssekretärin in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Forchheim nahezu täglich Frauen und Männer erlebt, die einen solchen Verlust verkraften müssen. Und weil sie weiß, was das für sie bedeutet: "Morgens war die Welt noch in Ordnung, nachmittags sind sie nicht mehr schwanger." Natürlich seien die Betroffenen damit erst einmal total überfordert.

"Weinen Sie! Lassen Sie es zu!"

So wie die 83-Jährige Briefe-Schreiberin: "Als ich 21 Jahre alt war, haben sie gesagt, dass ich andere Kinder haben würde - ich habe so sehr versucht, es so zu sehen wie sie. Als ich 21 Jahre alt war und allein war, machte ich weiter, als sei nichts geschehen."

Weiter machen. Klar sei das möglich, sagt Alexandra Kreller. Aber den Frauen und Männern, die ihr Kind verloren haben, redet sie gut zu: "Weinen Sie! Lassen Sie es zu! Denn wenn sie in zehn Jahren weinen, wird es keiner mehr verstehen." Trotzdem: "Die meisten sind am Anfang wie versteinert", erzählt die gelernte Arzthelferin. Dann bringt sie ihnen ein Kuvert, dass die Klinik eigens zusammengestellt hat. "Sie haben in diesen Tagen einen Abschied am Anfang des Lebens erleben müssen", steht dort. Der Umschlag enthält zahlreiche Hilfsangebote, vom Sternenkinderzentrum Bayern bis zu Selbsthilfegruppen.

Abschied von Sternenkindern: Forchheimerin hilft Eltern beim Trauern

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Er bietet Möglichkeiten für medizinische Erklärungen und den Hinweis auf die Gedenkfeier für Sternenkinder, die einmal im Jahr stattfindet. "Nehmen Sie den Umschlag mit nach Hause, öffnen Sie ihn, wenn Sie bereit dazu sind", rät sie den Betroffenen und entlässt sie mit dem Hinweis, immer für Fragen zur Verfügung zu stehen. Manche melden sich tatsächlich später wieder. Manche auch öfter. "Was habe ich falsch gemacht?", wollen sie wissen. "Nichts", antwortet ihnen Alexandra Kreller dann. Niemals sagt sie ihnen, sie seien doch noch jung und würden andere Kinder haben.

"Als ich 26 Jahre alt war, hatte ich Kinder", schreibt die 83-Jährige. "Sie sagten, siehst Du, alles ist wunderbar! Ich sagte ja und es war wunderbar, aber mein Stück fehlte immer noch, ich hätte glücklicher sein können … und so ging das Leben weiter - eine schleichende Traurigkeit, die ich nicht abschütteln konnte."

Gedenkfeier für Sternenkinder

Eltern sollen trauern können. Egal, ob das Ungeborene im Bauch erst sieben Wochen alt war oder nach 40 Schwangerschaftswochen tot geboren wird. Und auch wenn es Außenstehende nicht verstehen können. "Jeder verarbeitet eine solche Situation anders", weiß Alexandra Kreller. 2013 hat sie deshalb zum ersten Mal eine ökumenische Gedenkfeier am Sternenkindergrab auf dem Neuen Friedhof in Forchheim organisiert. Seitdem findet sie jedes Jahr im November statt.

Zuvor werden die Sternenkinder des jeweiligen Jahres in einen Sarg gebettet, der eigens dafür geschreinert wurde. Ihre Asche wird von den Friedhofsmitarbeitern anonym beerdigt. Eltern, aber auch Großeltern oder Geschwister gedenken dann ihren Kindern. "Im vergangenen Jahr kamen 40 bis 50 Leute", sagt die 50-Jährige und ist froh, dass das Angebot angenommen wird.

Der evangelische Klinikseelsorger und ein katholischer Pfarrer aus Erlangen gestalten die Feier, die von den "Klosterbären", einer Singgruppe aus der Forchheimer Klosterkirche, musikalisch umrahmt wird. Jedes Elternpaar bekommt einen Holzstern, auf den es den Namen seines Kindes schreiben kann. Die Sterne werden dann an ein Bäumchen gehängt, das auf dem Sternenkindergrab steht. "Wir zeigen den Eltern, dass sich jemand für ihr Schicksal interessiert, dass wir Anteil nehmen und dass ihr Kind nicht vergessen ist, das ist wichtig", meint Alexandra Kreller, die zertifizierte Trauerrednerin ist.

"Mein Baby, mein Kind, meine Träume"

"62 Jahre lang wartete ich auf jemanden, der mich danach fragte und der sagte, wie schwierig für Dich… Jemand sagte es und das fehlende Stück wurde gefunden, wieder geboren. Mein Baby, mein Kind, meine Träume - Du warst mein erster Schritt, an die Zukunft zu glauben. Du, mein Kind, mein fehlendes Stück! So viele Jahre war ich von Dir und von mir selbst isoliert - nun ist mein Schmerz klar."

Ins Familienstammbuch eintragen lassen

Inzwischen ist es möglich, sogar die Sternchen, die kleinsten der Kleinen, ins Familienstammbuch eintragen zu lassen, sagt Alexandra Kreller. Dann stellt das Klinikum eine entsprechende Bescheinigung aus, mit der die Eltern zum Standesamt gehen können. Für viele ist es wichtig, um die Existenz ihres Kindes auch offiziell bestätigt zu wissen. Für ein Kind, das bei seiner Geburt mindestens 500 Gramm schwer war, stellt das Standesamt eine Geburtsurkunde aus.

Vor einigen Jahren wurde am Sternenkindergrab außerdem ein Briefkasten aufgestellt, in den Eltern einen Brief, den sie an ihr Kind richten, einwerfen können. "Sobald die Friedhofsmitarbeiter sehen, dass einer im Briefkasten liegt, nehmen sie ihn heraus und schließen ihn im Friedhofstresor ein", erklärt die Klinik-Sekretärin. Wenn im November die nächste Urne im Sternenkindergrab beigesetzt wird, werden die Briefe hervorgeholt und dazu gelegt. "Die Seele braucht Zeit, Abschied zu nehmen. Und die sollte sich jeder nehmen."

Auch wenn es 62 Jahre braucht. "Ich weiß noch nicht warum, aber ich weiß, ich habe ein Recht zu trauern und zu erinnern und anzuerkennen, was Du für mich bedeutest und bedeutest hast. Merkwürdig, nun - ich bin 83 Jahre alt, habe ich wirklich das Gefühl, dass ich weitergehen kann."

Die Brief-Auszüge stammen aus dem Buch "Trauern hat seine Zeit" von Michaela Nijs. Die Gedenkfeier für Sternenkinder findet am Freitag, 22. November, um 16 Uhr am Neuen Friedhof Forchheim statt.

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