Kriterien waren nicht mehr zeitgemäß

Lebenshilfe Neumarkt ordnet die Vergütung neu

Hauke Höpcke

Neumarkt

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11.5.2021, 16:05 Uhr
Die Jura-Werkstätten in Neumarkt.

© Athina Tsimplostefanaki, NN Die Jura-Werkstätten in Neumarkt.

"Es gab Kriterien, die nicht mehr zeitgemäß waren", sagt Claudia Franke, die Sprecherin des Werkstattrats. Ersatzlos gestrichen wurden etwa ob ein Mitarbeiter Lesen und schreiben kann oder ob er auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Schließlich spielen diese Eigenschaften für seine Tätigkeit in den Werkstätten keine Rolle. Der betroffene Mensch wird strukturell benachteiligt. Dahinter steht ein mittlerweile überholtes Denken, das nicht zu dem Begriff der Teilhabe passt. "Über einige Punkte haben wir länger diskutiert", sagt Franke.

Das neue Bewertungssystem legt mehr Wert auf soziale Kriterien und persönliche Kompetenzen. "Manche Mitarbeiter können aufgrund ihrer Behinderung nicht so viel leisten, sind aber aufgrund ihrer Persönlichkeit wichtig für das Team", sagt Werkstattleiter Sebastian Schauer.

Einmal jährlich führt alle 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit seiner Gruppenleitung ein Teilhabe-Planungs-Gespräch. Dabei werden die persönlichen Stärken und Schwächen angesprochen. Das Ergebnis wird umgesetzt in ein Punktesystem. Diese Punkte bedeuten am Ende einen bestimmten Geldbetrag . Der kann sich durchaus ändern.

Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung müssen laut Gesetz mindestens 70 Prozent ihrer Erträge an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausschütten. Das heißt in Konsequenz: In guten Jahren ist mehr Geld vorhanden. In schlechten Jahren weniger. Das Präsidium der Lebenshilfe Neumarkt orientiert sich am Durchschnitt der letzten drei Jahre, um extreme Ausschläge abzufedern.

Weshalb braucht es überhaupt ein solches Bewertungssystem ausgerechnet für die Schwächsten am Arbeitsmarkt?

Viele „normal“ Beschäftigte im ganzen Land kennen so ein System nicht. Eine solche Abhängigkeit vom Unternehmensergebnis kennt man sonst bei Managern.

Dazu muss man wissen, dass die Mitarbeiter der Werkstätten keinen Lohn bekommen wie andere Arbeitnehmer. Ihr Entgelt setzt sich aus mehreren Bestandteilen zusammen. Es gibt einen Grundlohn, der für alle gleich ist. Aktuell sind es 99 Euro im Monat. Bis 2023 wird der Grundbetrag um jeweils weitere zehn Euro erhöht. Ab Januar 2023 soll er 119 Euro monatlich betragen.

Je höher der Grundlohn ausfällt, desto weniger bleibt im Topf für den Leistungslohn

Hinzu kommt der sogenannte Leistungslohn. Er wird mit den Bewertungspunkten berechnet. Das Dilemma: Je höher der Grundlohn ausfällt, desto weniger bleibt im Topf für den Leistungslohn. "Wir haben nicht die Produktivität, um mehr auszuschütten", sagt Schauer. Damit zehn Euro mehr bei den Mitarbeitern ankommen, muss die Jurawerkstatt 150.000 Euro mehr Gewinn machen. Dafür ist ein Umsatz-Plus von zehn Prozent notwendig.

Als sei dies noch nicht kompliziert, gibt es einen dritten Posten. Das Arbeits-Förderungs-Geld, kurz auch Afög, von derzeit 52 Euro monatlich. Der Bezirk Oberpfalz zahlt es an alle Mitarbeiter, die weniger als 351 Euro im Monat erhalten.

Bei den Jurawerkstätten sind dies eigentlich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Durchschnittsentgelt beträgt 220 Euro - mit Afög. Bei den Werkstätten in der Region liegen die Summen zwischen 190 und 255 Euro. Der bundesdeutsche Durchschnitt beträgt 206 Euro.

Sprich: Letztlich ist das Ergebnis der Bewertung vollkommen egal für das Entgelt. Weil sowieso nicht genug Geld erwirtschaftet wird, um mehr zu bezahlen.

Es gibt Ausnahmen. "Die Werkstätten in Ingolstadt etwa haben Aufträge vom Automobilhersteller Audi und zahlen mehr", sagt Franke.

Die Jura-Werkstätten haben keine "Cash-Cow"

In Neumarkt hingegen gibt es viele Montageplätze für einfache Werkstücke oder es werden Produkte verpackt. "Es gibt keine Cash-Cow-Abteilung, die die anderen mit finanziert", sagt Schauer. Im Gegenteil: technische Abteilungen können teilweise nicht besetzt werden oder Industriekunden haben Anforderungen, die die Mitarbeiter nicht erfüllen können.

Jeder andere Unternehmer investiert in einem solchen Fall in vollautomatische Maschinen. Eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung kann dies nicht so einfach. Denn dann hat sie zwar Aufträge, aber keine Beschäftigung für ihre Mitarbeiter.

Wie wichtig dies ist, zeigte sich nicht zuletzt in dem vergangenen Pandemie-Jahr. Viele Mitarbeiter haben Vorerkrankungen. Sie dürfen seit Monaten die Werkstatt nicht betreten. Auch Werkstatträtin Claudi Franke durfte seit dem zweiten Lockdown nicht mehr zu ihrer Arbeitsstelle gehen - obwohl sie mittlerweile gegen Corona geimpft wurde. Dank zahlreicher Ehrenämter hat sie eine ausgefüllten Tag. Doch sie weiß: "Die Leute wollen in die Arbeit, sie wollen eine Tagesstruktur."

Über 30 Menschen trifft das Betretungsverbot. Darunter sind Erwachsene, die seitdem ohne Unterbrechung bei ihren betagten Eltern leben.

Gleichzeitig fehlen die Hände in der Fertigung - was sich auch auf das Ergebnis auswirkt. In der Metallbearbeitung etwa ist nur jede zweite Maschine besetzt. "Wir müssen Aufträge teilweise ablehnen", sagt Schauer.

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