Der 87-jährige Mehmet Elbistan im Nachbarschaftshaus Gostenhof.
© Lukas G. Schlapp, NN
Der 87-jährige Mehmet Elbistan im Nachbarschaftshaus Gostenhof.

60 Jahre Anwerbeabkommen

„Durch das Abkommen kamen nicht nur Türken nach Deutschland“

Mehmet Elbistan hätte 1963 eigentlich gerne ein Studium in Deutschland begonnen. Daraus wurde aber nichts. Später bewarb er sich beim Kasseler Rüstungsunternehmen Henschel für die Panzerabteilung.

Seine clevere Argumentation, dass Deutschland und die Türkei beide NATO-Mitglieder sind und er durch Militärdienst sowie seine Mechaniker-Kenntnisse perfekt geeignet wäre, reichten nicht aus. "Mir wurde damals nur geantwortet, dass noch nie Ausländer bei Henschel in dieser Abteilung gearbeitet haben", erinnert er sich heute.

Mitbegründer des kurdischen Dachverbands

Mehmet Elbistan sitzt im Gruppenraum des kurdischen Dachverbands KOMKAR im Nachbarschaftshaus Gostenhof. Seit 1981 treffen sich hier fast täglich Menschen zum Austausch, feiern kurdische Feste und engagieren sich für die Interessen von Kurdinnen und Kurden. Elbistan ist nicht nur eines der bekanntesten Gesichter der kurdischen Gemeinde in Nürnberg, sondern auch Mitbegründer und ehemaliges Bundesvorstandsmitglied von KOMKAR.

Der wache Blick des 87-Jährigen wandert durch den Raum und fällt auf frühere Veranstaltungsplakate, Sportpokale und immer wieder auf die kurdische Flagge mit dem roten, weißen, grünen Streifen und einer gelben Sonne. Zu fast jedem Gegenstand an den Wänden könnte er eine Geschichte erzählen.

Über Umwege nach Nürnberg

Elbistan stammt aus der Provinz Hatay, dem südlichsten Teil der Türkei. Seine Familie war dort angesehen und seine Brüder waren Anwälte und Ärzte. Er betont, dass er nicht nach Deutschland gekommen ist, um ärmlichen Verhältnissen zu entkommen. "Ich wollte erst nach Deutschland, um zu studieren. Das hatte damals aber nicht geklappt und so bin ich zurück in die Türkei." Über Umwege gelangte Elbistan schließlich doch nach Nürnberg: "1971 bin ich durch das Anwerbeabkommen nach Stuttgart gekommen, um bei Bosch zu arbeiten. 1974 wurde dann unsere gesamte Abteilung nach Nürnberg verlegt", erzählt er.

Politisch engagiert war Mehmet Elbistan in Deutschland von Anfang an. Bereits in Stuttgart hatte er einen türkisch-kurdischen Verein gegründet. "Ich habe viele Demonstrationen organisiert und mit verschiedensten Gruppen zusammengearbeitet." Doch über die Kurdenfrage kam es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten mit Türken, so dass zunehmend mehr rein kurdische Vereine gegründet wurden.

In Deutschland fehlt das Wissen

Dass sein persönliches Engagement in Medien und Gesellschaft weniger sichtbar ist als das seiner türkischen Pendants, spielt für Elbistan keine Rolle. "Um zu verstehen, wer Kurden sind und weshalb sie protestierten, fehlt vielen Menschen in Deutschland einfach das Wissen", unterstreicht einer der anwesenden KOMKAR-Aktiven.

Umso mehr freut es Mehmet Elbistan jedoch, dass er zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von der Stadt Nürnberg eingeladen wurde. Zur Jubiläumsveranstaltung am Samstag, 30. Oktober, wird er neben anderen Menschen aus inzwischen vier Generationen von seinen Erinnerungen und Erfahrungen erzählen. Dass seine kurdische Perspektive dort Platz findet, bedeutet ihm viel: "Durch das Abkommen kamen schließlich nicht nur Türken nach Deutschland, sondern auch Kurden oder Armenier."

Obwohl sich seine Einwanderungsgeschichte von denen anderer sogenannter Gastarbeiter unterscheidet, gleicht ein Aspekt vielen Erzählungen: "Ich bin regelmäßig in die Türkei oder nach Syrien und habe meine Familie besucht. Die Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, habe ich nie wirklich bewusst getroffen."

Elbistan hat vielen geholfen

"Wie vielen Menschen Mehmet geholfen hat, wird einigen erst klar werden, wenn er irgendwann nicht mehr ist", stellt der Beiratsvorsitzende des Nachbarschaftshauses Rolf Engelmann fest. Bei Problemen mit Behörden steht Mehmet Elbistan immer noch mit Rat und Tat zur Seite. Engelmann ergänzt: "Mehmet ist ein herzensguter Mensch, aber wenn etwas ungerecht ist, macht er Dampf und wird bissig." Auch für die Teilnahme an den Klimastreiks von "Fridays for Future" sei sich der 87-Jährige nicht zu schade, berichtet Engelmann.

Dass Mehmet Elbistans Leben würdig ist, festgehalten zu werden, wurde bereits erkannt. Im Juni 2020 erschien über ihn ein Buch in türkischer Sprache mit dem Titel "Ein unermüdlicher Traumreisender". Es enthält sowohl Gespräche zwischen ihm und dem Autoren Doğan Ceren, aber auch Gedanken und Beobachtungen von Bekannten und Freunden. Dass es nur bei einer Lesung in Mannheim blieb, war so nicht geplant. Doch durch die Pandemie kam alles ganz anders als gedacht.

Info: Die öffentliche Jubiläumsveranstaltung zu 60 Jahre Anwerbeabkommen Deutschland-Türkei findet am Samstag, 30. Oktober 2021 um 11 Uhr im Heilig-Geist-Spital, Hans-Sachs-Platz 2 statt. Die Veranstaltung wird aufgezeichnet und ist nach dem 30. Oktober unter www.kuf-kultur.de/interkultur abrufbar.

Über Mehmet Elbistans Leben ist 2020 ein Buch erschienen.

Über Mehmet Elbistans Leben ist 2020 ein Buch erschienen. © Lukas G. Schlapp, NN