Von wegen mittelalterlich

Romantik vom Reißbrett: Der Handwerkerhof Nürnberg lockt mit charmantem "Lebkuchenstil"

6.12.2023, 17:55 Uhr
Der Handwerkerhof wurde erst 1971 Realität, anders als man beim Anblick des Holzschnitts (links) denken würde. Er hat sich bis heute mit ein paar Umbauten und Erweiterungen erhalten. 

© Verlag E. Otto Schmidt/Sebastian Gulden Der Handwerkerhof wurde erst 1971 Realität, anders als man beim Anblick des Holzschnitts (links) denken würde. Er hat sich bis heute mit ein paar Umbauten und Erweiterungen erhalten. 

Seit 52 Jahren lädt der im Stil einer mittelalterlichen, respektive frühneuzeitlichen Budenstadt errichtete Handwerkerhof zum Stöbern, Schmausen und Genießen ein.

Die Illusion scheint perfekt

Es wäre ein wahrhaft spannendes Experiment zu ermitteln, wie viele Gäste und Bewohner unserer Stadt den Handwerkerhof am Frauentor für ein Original aus alter Zeit halten. Es werden nicht wenige sein, denn gerade, wenn der Schnee an einem Adventsabend die Dächlein der Häuschen mit einer weißen Zuckerschicht bedeckt und dahinter im Streiflicht der weihnachtlichen Festbeleuchtung die dicken Sandsteinfronten von Stadtmauer und Frauentorturm aufragen, scheint die Illusion perfekt.

Retro-Idylle pur: Hinter der Budenstadt des Handwerkerhofs ragen um 1977 die Stadtmauer und der mächtige Frauentorturm auf.

Retro-Idylle pur: Hinter der Budenstadt des Handwerkerhofs ragen um 1977 die Stadtmauer und der mächtige Frauentorturm auf. © Ansichtskarte (Ausschnitt): Verlag der ORTOG (Sammlung Sebastian Gulden)

Tatsächlich hat die schnuckelige Budenstadt kein historisches Vorbild an dieser Stelle. Die Aufweitung der Stadtmauer mit den versetzt angeordneten Toren diente seit ihrer Vollendung als Warteplatz, auf dem Menschen und Fuhrwerke, die in die Stadt gelangen wollten, kontrolliert wurden. Jedwede Bebauung hätte da nur gestört. Erst im 19. Jahrhundert entstanden an die Innenseiten der Mauer angelehnte, niedrige Bauten, nach dem Zweiten Weltkrieg auch provisorische Wohnungen und Ladenlokale, darunter eine Apotheke und die Freiluftgastronomie des Bunkerhotels, das 1946 unter dem Zwinger eröffnete.

Ein Plan, der aufging

Als Albrecht Dürers 500. Geburtstag seine Schatten vorauswarf, ersann die Nürnberger ORTOG GmbH (die Abkürzung steht für „Organisation von Schauen und Tombolen“), eine Tochtergesellschaft der Messeveranstalterin AFAG, den Plan, den Hof in eine nostalgische Flaniermeile zu verwandeln, an der traditionelle Handwerke zu bestaunen und ihre Produkte zu erwerben sind.

Eine junge Frau im Beratungsgespräch mit einer Touristin, um 1977. Die historisierende Gewandung des Personals war damals im Handwerkerhof üblich.

Eine junge Frau im Beratungsgespräch mit einer Touristin, um 1977. Die historisierende Gewandung des Personals war damals im Handwerkerhof üblich. © Sammlung Sebastian Gulden, NNZ

Am 1. April 1971 eröffnete „Alt-Nürnberg im Waffenhof“ seine Pforten. In den ersten Jahren versahen hier Damen und Herren in der Gewandung des 16. Jahrhunderts ihren Dienst als Handwerker, Verkaufspersonal und Bedienungen, rezitierten moderne Meistersinger den berühmten Hans Sachs auf einer eigens dafür errichteten Bühne.
Eigentlich waren die Häuschen nicht für die Ewigkeit gedacht. Allein, die Nürnberger und ihre Gäste schlossen das Budenstädtchen so ins Herz, dass es bleiben durfte. Bis heute haben sich ein Gutteil der originalen Bausubstanz und der Ausstattung der Gebäude erhalten.

Pseudohistorisch, aber charmant

Der Handwerkerhof ist mit seiner retrospektiven Architektur ein typisches Zeugnis seiner Entstehungszeit. „Jodlerstil“ nannte das der legendäre Dieter Wieland. In Nürnberg müsste das dann wohl „Lebkuchenstil“ heißen, nutzen doch gerade die örtlichen Traditionsbetriebe allzu gerne und völlig nachvollziehbar den pseudohistorischen Charme.

Neu war das freilich nicht: Schon im 19. Jahrhundert übten sich Stadt, Bauherrn und Architekten im Aufwärmen alter Baukunst, wenn auch mit dem Ziel, an die Kunst der Altvorderen anzuknüpfen, ihre Gesetzmäßigkeiten zu durchdringen und den Stil weiterzuentwickeln. Klassische Schießbudenarchitektur, die nur auf Schau aus war, gab es freilich auch, zum Beispiel bei den Volksfesten.

Dieser historisierende Holzschnitt aus den 1970er Jahren suggeriert, dass schon zu Dürers Zeiten im Handwerkerhof gehandelt, getrunken und gefeiert wurde. Stimmt aber nicht.

Dieser historisierende Holzschnitt aus den 1970er Jahren suggeriert, dass schon zu Dürers Zeiten im Handwerkerhof gehandelt, getrunken und gefeiert wurde. Stimmt aber nicht. © Verlag E. Otto Schmidt, NNZ

Die bauliche Form des Handwerkerhofs kam in den 1970er Jahren nicht bei jedem gut an. „Disneyland“, wie es manch böse Zunge nennt, ist aber in diesem Falle etwas grob. Denn tatsächlich wurden die Häuschen mit dem qua Namen verpflichtenden Können und einem, wenn auch teils etwas oberflächlichen, Verständnis für historische Fachwerkbaukunst geplant und errichtet.

Liebenswertes Denkmal seiner Zeit

Freilich, manch Fachwerkfiguration ist konstruktiv sinnlos und sichtbar „auf Schau“ ausgelegt. Und dann ist es zumindest für den Kenner merkwürdig, dass die Füllungen zwischen den Hölzern einige Zentimeter herausquellen. Das sieht man sonst nur bei Gebäuden, deren Fachwerk nachträglich freigelegt wurde, nicht allerdings bei originalem Sichtfachwerk.

Vor nunmehr 52 Jahren stimmten die Denkmalbehörden dem Bau der Budenstadt zu, sicher in dem Glauben, dass all das nach einem Jahr wieder verschwinden würde. Jetzt ist der Handwerkerhof selbst ein Denkmal seiner Zeit, und ein ausgesprochen liebenswertes dazu.

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie noch historische Fotografien oder Darstellungen eines Schauplatzes in Nürnberg? Dann schicken Sie uns diese bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: NN/NZ, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail an lokales@
vnp.de.


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