Geschichte eines frühen Betonbauwerks

Wo der Sandstein nur Make-up ist: Das überraschende Innenleben der Vestnertorbrücke

24.1.2023, 11:01 Uhr
Das Hintertürchen zur Kaiserburg: die mächtige Vestnertorgrabenbrücke.

© Michael Matejka Das Hintertürchen zur Kaiserburg: die mächtige Vestnertorgrabenbrücke.

Selbst im Bann malerischer Motive lohnt sich der Blick nach unten. Zum Beispiel am Vestnertor, wo eine Brücke von der Blüte deutscher Ingenieurskunst und den Exzessen der Nazi-Denkmalpflege erzählt.

Kaiserburg und Beton – auf den ersten Blick passt das so gut zusammen wie Bratwürste und Erdbeermarmelade. Allerdings steckt in den Eingeweiden der Nürnberger Stadtkrone spätestens seit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg weit mehr künstlicher Stein, als man denkt. Bloß sehen durfte man’s nicht. Dafür sorgten seit Ende des 19. Jahrhunderts besondere örtliche Bauvorschriften.

Auch auf dem Foto durften Vestnertor und -brücke glänzen. Diese Ansicht entstand um 1914. 

Auch auf dem Foto durften Vestnertor und -brücke glänzen. Diese Ansicht entstand um 1914.  © Ansichtskarte Verlag J. Velten (Sammlung Sebastian Gulden)

Auf einen ganz besonderen und vor allem sehr frühen Betonbau hat uns unser Leser Karsten Neumann hingewiesen: Als 1885 die Grabenbrücke am Vestnertor erneuert wurde, plante die Nürnberger Dependance von Dyckerhoff & Widmann Fahrbahnplatte, Brüstungen und die stichbogigen Bögen in modernem Stampfbeton. Die Mischung aus Kies, Sand, Wasser und Portland-Zement wurde in Schichten in eine Schalung gefüllt und stark verdichtet; Bewehrungen brauchte es keine.

Hülle aus Kunststein

Die Vorteile: Der Bau war wesentlich zeit- und kostengünstiger als die traditionelle Massivbauweise und außerdem wesentlich haltbarer als die vormalige Holzkonstruktion. Ferner ließ sich der ausgesprochen enge Radius am Anschluss zum Torbogen in der Bastion aus gegossenem Stein viel einfacher erstellen als etwa aus Sandsteinquadern.

Die Grabenbrücke als Rodelbahn: eine historische Postkarte aus der  Zeit um 1899.

Die Grabenbrücke als Rodelbahn: eine historische Postkarte aus der  Zeit um 1899. © Ansichtskarte Sammlung Voskamp

Der englische Maler Charles E. Flower verewigte die Vestnertorbrücke auf seiner Reise durch Festlandeuropa 1906 in diesem Aquarell, das als Ansichtskarte kursierte.

Der englische Maler Charles E. Flower verewigte die Vestnertorbrücke auf seiner Reise durch Festlandeuropa 1906 in diesem Aquarell, das als Ansichtskarte kursierte. © Ansichtskarte Raphael Tuck & Sons (Sammlung Sebastian Gulden)

Allein, so reizvoll die nackten Oberflächen des Betons auf uns Heutige wirken mögen, das 19. Jahrhundert mochte sie in aller Regel nicht zeigen. Zudem bissen sie sich dann doch etwas arg mit den alten Sandsteinpfeilern, die man – gleichwohl gekappt – wiederverwendet hatte. Der Trick war eine kaschierende Hülle aus Kunststein unter Zugabe von Sandsteinmehl, natürlich mit eingeritzten Fugen, die eine Bauweise aus Naturstein vorspiegeln sollten.

NS-Regierung knöpfte sich die Brücke wieder vor

Ob die Fremdenführer ihre Gäste, die schon um 1900 in Scharen über die Brücke in die Burg pilgerten, darauf hinwiesen, entzieht sich unserer Kenntnis. Grund zum Stolz war der Bau aus Stampfbeton auf jeden Fall. Schon 1868 hatte man einen Vorstoß zur Instandsetzung gemacht, damals noch mit einer Eisenfachwerkkonstruktion, die ebenfalls auf den alten Sandsteinpfeilern ruhen sollte. Der Entwurf, unterschrieben vom damaligen Stadtbaurat Bernhard Solger, aber wohl nicht von ihm gefertigt (er war Architekt, kein Ingenieur), kam nicht zur Ausführung und landete elf Jahre später bei den Akten.

Seit 1938 zeigt sich die Vestnertorbrücke – hier in einer aktuellen Aufnahme – wieder näher an ihrem spätmittelalterlichen Zustand.

Seit 1938 zeigt sich die Vestnertorbrücke – hier in einer aktuellen Aufnahme – wieder näher an ihrem spätmittelalterlichen Zustand. © Sebastian Gulden

Diese Planzeichnung von 1888 zeigt den eigentümlichen Grundriss und die Ansicht der kurz zuvor erneuerten Grabenbrücke

Diese Planzeichnung von 1888 zeigt den eigentümlichen Grundriss und die Ansicht der kurz zuvor erneuerten Grabenbrücke © Grafik Verlag der Deutschen Bauzeitung

Gut fünf Jahrzehnte nach ihrem weitgehenden Neubau versuchte die NS-Stadtregierung die Zeit zurückzudrehen. Während Architekt Rudolf Esterer die Hauptburg nach den Vorstellungen der unwissenschaftlichen "Schöpferischen Denkmalpflege" verschlimmbesserte, machte sich das städtische Tiefbauamt 1938 über die Grabenbrücke her.

Viel Auffrischungsbedarf

Obschon der Vater des Gedankens auch hier – wie bei den meisten kosmetischen Eingriffen ins Bild der "Stadt der Reichsparteitage" – die Ideologie einer "wahrhaft deutschen Stadt" nach Gusto Hitlers war, kam man mit dem erneuten Teilneubau dem Original, das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts errichtet worden war, wesentlich näher. Denn die Fahrbahn und die Konstruktion mit Sprengwerk hatte man damals aus gutem Grund aus Holz ausgeführt, um sie im Falle einer Belagerung rasch abreißen und nach deren Ende ebenso geschwind wiedererrichten zu können.

Nun wird die Kaiserburg heute nicht mehr belagert, außer von den Touristen. Dennoch braucht es hin und wieder eine Auffrischung für die historische Brücke. Nach dem Wiederaufbau nach dem Krieg musste das unter Denkmalschutz stehende Bauwerk 1974 und zuletzt 2008 aufwändig saniert werden, nachdem Tausalze über Jahrzehnte die Sandsteinpfeiler angefressen hatten. Dabei musste nicht nur die Holzkonstruktion verändert werden, um die beschädigten Pfeiler zu entlasten; auch erhielt die Fahrbahn eine schützende Teerdecke.

Also, wenn Sie mal wieder über das Vestnertor auf die Burg wandern, widmen Sie doch auch mal einen Blick der kurvigen Brücke oder bewundern Sie sie gleich vom Graben aus. So viel geballte Geschichte der Ingenieurskunst und Denkmalpflege aus über einem halben Jahrtausend sehen Sie sonst nur selten.

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: redaktion-nuernberg@vnp.de

Noch viel mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" mit spannenden Ansichten der Stadt und Hintergründen finden Sie unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel

Verwandte Themen


Keine Kommentare