
Kommentar
Merz erst im zweiten Wahlgang Kanzler: Die Abweichler haben verantwortungslos gehandelt
Historisch. Genau so verlief der Tag, an dem Friedrich Merz zum zehnten Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Denn der CDU-Chef hatte zunächst keine Mehrheit erhalten. Abtrünnige aus Reihen der Koalition verweigerten „ihrem“ Kanzler zunächst die Unterstützung. Das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.
Erst im zweiten Wahlgang holte der 69-Jährige die notwendige Mehrheit - Deutschland war kurzzeitig im politischen Ausnahmezustand, die Börsenkurse fielen, die AfD feixte und die Staatengemeinschaft blickte ungläubig nach Berlin.
Dabei wäre in diesen Tagen in Deutschland vor allem eines dringend nötig: Stabilität. Diese Stabilität ist vorläufig passé. Die schwarz-rote Koalition startet mit einem gehörigen Malus in die Legislaturperiode.
Nach Merz’ Scheitern: Einfach zur Tagesordnung überzugehen, das geht keinesfalls
Von einem „Vorboten von Weimar“ zu sprechen, wie CSU-Chef Markus Söder, war vielleicht übertrieben. Doch einfach zur Tagesordnung überzugehen, das verbietet sich. Das Land steckt in einer Krise und hat bereits Schaden genommen. Die Lage ist ernst. Viele Gespräche mit den Abweichlern sind nötig. CDU, CSU und SPD müssen nun in den eigenen Reihen für Geschlossenheit sorgen, sonst endet dieses Bündnis ebenso vorzeitig wie die Ampelregierung.
Genau diese Geschlossenheit wurde vor der Kanzlerwahl als selbstverständlich vorausgesetzt. Ein großer Fehler! Denn offenkundig gab es für einige Parlamentarier gute Gründe, gegen den eigenen Kanzlerkandidaten zu votieren. Das muss rasch aufgearbeitet werden. Ein weiteres Debakel kann sich Schwarz-Rot definitiv nicht leisten.
Wenn die eigene Koalition ihrem designierten Regierungschef das Vertrauen entzieht, bevor die neue Bundesregierung das erste Mal zusammentreten konnte, ist das ein sehr ernstes Warnsignal.
Und nicht weniger als ein Debakel. Eines, das vor allem die Zuversichtlichen im Lande trifft. Sie hatten ein halbes Jahr nach dem Ampel-Aus auf einen Regierungswechsel gehofft, sie trauten den für Ministerposten auserwählten Menschen zu, der Wirtschaft dringend nötige Impulse zu geben, die Migrationsdebatte, von der vor allem die AfD profitiert hatte, zu beenden und somit Deutschland aus dem Stimmungstief zu führen.
Mit guter Arbeit könnte das Desaster in Vergessenheit geraten
All dies wird nun bestenfalls zeitverzögert möglich sein. Eine von Merz angeführte Regierung hat dennoch eine Chance verdient. Gelingt es dem Kabinett Merz, durch gute Arbeit das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, wäre das Anfangsdesaster eines Tages verschmerzbar. Im Moment sind wir davon weit entfernt.
Ein Polit-Drama, wie es sich am 6. Mai 2025 im Deutschen Bundestag abgespielt hat, kann sich eine Demokratie, die seit Monaten die angebliche Kraft der Mitte gebetsmühlenartig beschwört, schlicht nicht leisten. Die Abweichler in der Koalition handelten im ersten Wahlgang verantwortungslos. Sei es aus verletzter Eitelkeit, weil die eigene Person beim Postenverteilen übergangen worden ist. Sei es aus Ärger über Merz, der in der Vergangenheit immer wieder mal Menschen, die heute im Bundestag für Union und SPD sitzen, vor den Kopf gestoßen hat. Oder sei es - für den Fall, dass es sozialdemokratische Stimmen waren, die gegen Merz gestimmt haben - aus Enttäuschung über SPD-Parteichef Lars Klingbeil.
Tatsächlich sind Merz und Klingbeil die Verlierer des Tages. Ihnen mangelt es offenbar an Vertrauen aus den eigenen Reihen. Damit setzt sich ein Narrativ fest, das sich durch den Wahlkampf gezogen hat und das sich in vielen Umfrageergebnissen widerspiegelt. Vor allem Friedrich Merz fehlte es an Rückendeckung, im politischen Berlin ebenso wie in der Bevölkerung.
Das Misstrauen muss in Teilen der Regierungsmehrheit tief verankert sein. Normalerweise hilft die Fraktionsdisziplin, heikle Momente schadlos zu überstehen. Im ersten Wahlgang war dies anders. Ob es Merz gelingen kann, trotz des untrennbar mit seiner Person verbundenen Geburtsfehlers dieser Koalition gut ins neue Amt zu starten, bleibt eine der offenen Fragen. Klar ist eines: Einem dritten Wahlgang hätte sich der Sauerländer aller Voraussicht nach nicht gestellt.
Dass die Bundesrepublik nur von einem Bündnis aus CDU, CSU und SPD stabil regiert werden kann, wissen auch die Abweichler. Sie stehen künftig vor der Abwägung, ob ihr Ego oder die Staatsräson schwerer wiegen. Schlägt das Pendel erneut in Richtung Ego, profitieren die Rechtsextremisten im Bundestag. Reaktionen der AfD nach dem ersten Wahlgang zeigen, dass sie genau auf ein solches Chaos-Szenario hoffen. Deutschland steht am Scheideweg. Friedrich Merz muss jetzt liefern - ohne Wenn und Aber.
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