Personelle Konsequenzen angekündigt

Nach Missbrauchsfällen: So entwickeln sich die Kirchenaustritte in der Region

21.2.2022, 13:50 Uhr
Auch in der Region haben sich zahlreiche Menschen aufgrund der Missbrauchsfälle entschieden, die Kirche zu verlassen. 

© Christian Ohde via www.imago-images.de Auch in der Region haben sich zahlreiche Menschen aufgrund der Missbrauchsfälle entschieden, die Kirche zu verlassen. 

Als das Gutachten über die Missbrauchsfälle am 20. Januar veröffentlicht wird, ist der Fürther Stadtdekan André Hermany überzeugt, dass Gläubige aus der Kirche austreten werden. "Denn jetzt ist das Maß voll."

Er sollte Recht behalten. Die Standesämter verzeichnen seit der Veröffentlichung des Gutachtens einen deutlichen Anstieg der Austritte, sowohl aus der katholischen als auch der evangelischen Kirche. Der Zenit dürfte noch nicht erreicht sein, denn vielerorts müssen Gläubige mehrere Wochen auf einen Termin warten.

In Erlangen sind es aktuell sogar mehrere Monate. Erst ab dem 16. Mai (Stand 17. Februar) stehen wieder freie Termine zur Verfügung. Seit dem 20. Januar sind bis einschließlich 16. Februar 136 Erlangerinnen und Erlanger aus der Kirche ausgetreten. Davon 76 aus der katholischen, 60 aus der evangelischen. Im Vorjahr waren es im selben Zeitraum 56 Kirchenaustritte.

Austritte sind "höchst bedauerlich"

In Fürth wurden in diesem Zeitraum 115 Kirchenaustritte verzeichnet. Im Jahr 2021 waren es 64. Freie Termine für den Austritt gibt es in der Stadt ab der zweiten Märzwoche (Stand 16. Februar). Bis dahin stehen bereits 116 weitere Termine für Kirchenaustritte fest.

In anderen Städten der Region sieht es ähnlich aus. In Bamberg sind im Januar 153 Menschen aus der Kirche aufgetreten, bis zum 15. Februar nochmal 57. Im Januar 2021 waren es nur 41. In Forchheim haben zwischen dem 20. Januar und dem 16. Februar 76 Menschen die Kirche verlassen, das sind 41 mehr als im Vorjahr.

Die Zunahme der Kirchenaustritte beschäftigt Christian Weisner vom Bundesteam der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche in München. "Das ist höchst bedauerlich", sagt er. "Die Menschen, die die Kirche kritisch sehen und sie verändern könnten, die gehen jetzt." Er appelliert, in der Kirche zu bleiben und sich für Reformen zu engagieren.

Die Kirche hat sich von den Menschen entfremdet

Zwar kann man auch nach einem Austritt jederzeit in die Kirche zurückkehren, aber Ludwig Schick, Erzbischof von Bamberg, kann die Zweifel der Menschen verstehen. "Ich kann nachvollziehen, wenn jemand aufgrund dieser schrecklichen Verbrechen das Vertrauen in die Institution Kirche verliert." Er verweist zwar auch auf die gute Arbeit, die in kirchlichen Einrichtungen und von ehrenamtlichen Mitarbeitenden geleistet werde.

Doch jetzt müsse geprüft werden "welche systemischen Ursachen in unserer Kirche für den Missbrauchsskandal mitverantwortlich sind". Denn Schuld und Fehler habe es "auf allen Ebenen der Kirche gegeben, bis ganz oben", so Schick. "Hier muss die ganze Wahrheit auf den Tisch. Jeder muss zu seinen Fehlern stehen und die Konsequenzen ziehen. Das gilt auch für mich, falls sich herausstellen sollte, dass ich nicht richtig gehandelt habe."

Personelle Konsequenzen sind eine Möglichkeit. Aber sie lösen meist nicht das zugrundeliegende Problem. Weiser sieht es als ersten Schritt, vom "Denken in oben und unten" wegzukommen. Er ist der Überzeugung, Kirche brauche ein neues Gemeinschaftsgefühl, "wo keine Autoritätsperson ganz oben steht. Denn nicht die Menschen haben sich von der Kirche entfremdet, sondern umgekehrt. Die Kirche muss zu den Menschen hingehen und sich vor Ort kümmern."

Doch im Alltag der Kirchenmitarbeitenden ist das oft gar nicht so einfach. Für den Fürther Dekan Hermany wirkt sich das Thema Missbrauch auch auf seine tägliche Arbeit aus. "Wenn man sich als Kirchenmitglied in einer verantwortlichen Position zu erkennen gibt, steht man in der katholischen Kirche unter Generalverdacht. Es ist wie ein Etikett, das man nicht haben möchte."

"Missbrauch hat was mit Macht zu tun"

Alle Mitarbeitende seiner Gemeinde müssen ein Seminar besuchen, um Achtsamkeit beim Thema Missbrauch zu schulen. Früher habe man sich um solche Themen nicht so viele Gedanken gemacht, aber heutzutage möchte keiner einen Verdacht erwecken, so Hermany. Doch er ist sich sicher: "Die Kirche ist mehr als Missbrauch." Sie habe die Aufgabe, den Menschen nahe zu sein und dort zu helfen, wo sie helfen könne. "Doch dieses Missbrauchsgeschehen ist wie ein Damoklesschwert, das über einem schwebt", so der Dekan.

Auch viele Mitglieder in den Gemeinden beschäftigt das Thema. Der Nürnberger Stadtdekan Andreas Lurz sagt: "Das ist wie Feuer unterm Dach", das mache was mit den Menschen. Die Aufarbeitung sei eine "gesamtgesellschaftliche Aufgabe". Denn "Missbrauch hat immer was mit Macht zu tun", so Lurz. "Und Macht hat in der katholischen Kirche eine eigene Dynamik." Doch bei Kirche gehe es nicht um Macht, sondern um die Vermittlung einer Botschaft. "Nur das geht momentan leider unter." Auch werde zu viel nach Persönlichkeiten und Tätern gefragt und zu wenig nach den Opfern, findet er. Man müsse sich darauf konzentrieren, wie eine solche Situation künftig verhindert werden könne.

Denn die Zahlen sind erschreckend. Mindestens 497 Menschen sind im katholischen Erzbistum München und Freising Opfer sexualisierter Gewalt gewesen. Externe Gutachter haben Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen von 1945 bis 2019 untersucht. Die Dunkelziffer an Opfern ist vermutlich noch weitaus höher. Auch gegen den ehemaligen Papst Benedikt XVI. und Kardinal Marx werden Vorwürfe erhoben.

Papstbrief in der Kritik

"Das Thema Missbrauch ist schon seit 27 Jahren auf dem Tisch", sagt Weisner von Wir sind Kirche. "Das ist eine höchst verstörende Sache. Die katholische Kirche hat weltweit eine große Verantwortung." Die Kirche könne in vielen Bereichen ein Vorbild sein, aber vor allem im Kontakt mit den Betroffenen tue sie sich schwer.

Damit bezieht er sich auf den Entschuldigungsbrief des zurückgetretenen Papstes Benedikt XVI.. "Die Erklärungen von Joseph Ratzinger sind vollkommen unsäglich", sagt er. "Damit hat er selber einen Ruf als moralische Autorität beschädigt." Auch der Fürther Dekan Hermany beurteilt das Entschuldigungsschreiben als "mehr als dürftig". Es komme zu spät und Ratzinger ginge nicht genug auf die Opfer ein. "Aber ich bin froh, dass er es überhaupt gemacht hat."

1 Kommentar