Der "Stürmer" wurde auch in Treuchtlingen gelesen

13.11.2012, 08:59 Uhr
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© Shaw

Für einen wissenschaftlichen Vortrag war das Interesse an der Veranstaltung des Arbeitskreises 9. November mit fast 70 Besuchern sehr groß. Sicherlich nicht zuletzt wegen des Nebeneinanders von Neugier und Abscheu, das die Texte und Bilder des „Stürmers“ bis heute wecken. So fand das Nürnberger Hetzblatt zwischen 1923 und 1945 seine Leser trotz seiner hanebüchenen, menschenverachtenden und vulgären Inhalte in allen gesellschaftlichen Schichten – anfangs noch begrenzt auf Nordbayern, später mit Auflagen von bis zu 700.000 Exemplaren in ganz Deutschland. Sonderausgaben wie die berüchtigte „Ritualmord-Ausgabe“ erreichten sogar Auflagen von bis zu zwei Millionen.


Für den schwäbischen Volksschullehrer, erklärten Judenhasser und selbsternannten „Frankenführer“ Julius Streicher war der „Stürmer“ laut Melanie Wager eine Art „alter Ego“. In einer Zeit ohne Fernsehen und Internet, als Zeitungen eine viel größere Bedeutung als heute zukam, entwickelte das Blatt ein seltsames Eigenleben, wurde personifiziert, ja regelrecht verehrt. So adressierten Leser ihre Briefe an die Redaktion (in denen sie nicht selten Nachbarn schon wegen eines Grußes an einen Juden denunzierten) mit „lieber Stürmer“ und schlossen mit „heil Hitler, heil Streicher!“; so lernten Schulkinder zu Hundertausenden Streicher’sche Rassenkunde; so standen Parteigenossen sogar eigens Wache vor den sogenannten „Stürmerkästen“, in denen allerorten die Titelseite prangte, und weihten neue Kästen mit großem Brimborium ein.


Hetze hat sich eingeprägt


Auffällig ist laut Melanie Wager, wie gut sich Zeitzeugen an den „Stürmer“ erinnern: an die antisemitischen, abstoßenden, oft pornografischen Titelkarikaturen von Philipp Rupprecht, genannnt „Fips“, die gemäß dem bis heute geltenden Motto „Sex sells“ das weithin sichtbare Markenzeichen des Blatts waren; an die Schulaufsätze zum Thema oder die Meldungen von Kommunen „Wir sind judenfrei“; und an die Kinderbücher aus dem Stürmer-Verlag wie „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid“ oder den berüchtigten „Giftpilz“, aus denen manche der Befragten 70 Jahre später noch Textpassagen zitieren konnten.


„Die Wirkung der Propaganda war auf die Jüngsten am stärksten“, sagt Wager. Dass solchermaßen beein­flusste Kinder ihre Mitschüler denunziert oder ihren Eltern mit der Meldung beim Blockwart gedroht hätten, wenn diese bei einem Juden einkauften, seien „keine Einzelfälle“ gewesen.


Maßgeblich für die Breitenwirkung des „Stürmers“ waren nach Worten der Wissenschaftlerin die primitive Ausdrucksweise, die plakativen Bilder, das durch die Anrede per „Du“ erzeugte Wir-Gefühl sowie massiver Druck („Furchtabonnenten“). Maßgeblich für die Verbreitung seien neben Zwangsabnahmen, Schul- und Front-Abos die „Stürmerkästen“ gewesen. „Die hingen überall“, zitierte die Referentin einen Zeitzeugen – oft aufwendig gestaltet und stets mit der Stürmer-Parole „Die Juden sind unser Unglück“.


Freilich gab es auch Andersdenkende. „Das war ein Schweineblatt“ sei von Zeitzeugen gleichermaßen oft zu hören. Es seien Stürmerkästen beschmiert worden, und im Nürnberger Scharrer-Gymnasium, das ab 1935 Julius-Streicher-Gymnasium hieß, habe ein Schüler zum Beispiel einmal die Büste des Herausgebers im Vorbeigehen geohrfeigt.


„Meist war aber die Angst vor dem Blockwart zu groß“, so Wager. Viele Deutsche hätten zwar den Stil des „Stürmers“ abgelehnt, Julius Streicher (der mit dem Blatt zum Millionär wurde) jedoch als „Mann fürs Grobe“ akzeptiert. Der zeitweilige „Sturm der Entrüstung“ sei zudem bei der Vermarktung durchaus einkalkuliert gewesen. Die „unterschwellige Manipulation“ selbst kritischer Geister habe eine Umfrage vier Jahre nach Kriegsende deutlich gemacht: „Wenn auch vieles gelogen war, lag doch in manchem ein Körnchen Wahrheit“, habe es dabei oft geheißen.


Streicher – 1940 von einem Ehrengericht wegen Unzurechnungsfähigkeit aller Ämter enthoben – blieb bis Kriegsende Hitlers Protegé. Er durfte Nürnberg zwar nicht mehr betreten, den „Stürmer“ (der bis zuletzt kein Parteiorgan war) aber behalten und auf seinem Landgut Pleikershof bei Cadolzburg sogar weiter als „Gauleiter“ residieren. 1946 verurteilte ihn das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zum Tod durch den Strang.


Umfeld für Holocaust geschaffen


Dass der „Stürmer“ auch und gerade in Treuchtlingen gelesen wurde, belegte Christel Keller vom Arbeitskreis 9. November unter anderem mit Hinweisen auf einen einstigen „Stürmerkasten“ vor dem Gasthaus „Krone“. Der Treuchtlinger Kurier habe noch 1937 unabhängig über den Besuch Julius Streichers in der Altmühlstadt berichtet. 1939 entzogen die Nazis der Familie Leidel das Verlagsrecht, die Zeitung wurde „gleichgeschaltet“.


Am 9. November 1938 brannte auch in Treuchtlingen die Synagoge. Bald danach war die Stadt „judenfrei“. Julius Streicher und der „Stürmer“ hatten in den Jahren zuvor „die Atmosphäre für den Holocaust geschaffen“, wie Melanie Wager betonte. Der Herausgeber und seine Mitarbeiter seien deshalb „indirekte Mörder“.

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