Mensch der Woche

Sie schwimmt in die Freiheit und singt für Europa

Timo Schickler

Lokalredaktion Nürnberg

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4.2.2022, 10:00 Uhr
Hat in ihrem Garten Teebeutel für ein Wissenschaftsprojekt vergraben: Heike Mierzwa.

© Eduard Weigert, NN Hat in ihrem Garten Teebeutel für ein Wissenschaftsprojekt vergraben: Heike Mierzwa.

Im Kurzweg endet Heike Mierzwas lange Reise. Vorerst. Sie ist schon oft umgezogen, "aber so eine schöne Adresse hatte ich noch nie", sagt die große Frau mit den langen braunen Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichen. Mierzwa sitzt im Wintergarten ihres Hauses in Röthenbach und blickt ins Grüne. Hinter dem Zaun beginnt der Wald. Der Efeu wächst das Gartenhäuschen hinauf, der gepflasterte Weg ist gesäumt mit großen Töpfen.

Teebeutel im Garten vergraben

An mehreren Stellen auf ihrem Grundstück hat sie im vergangenen Sommer etwas verbuddelt und erst im Herbst wieder aus der Erde geholt. Mierzwa hat zwölf Teebeutel vergraben. Mit Esoterik hat das aber nichts zu tun. Sondern mit Wissenschaft.

Bei der Mitmach-Aktion "Expedition Erdreich" erkunden Menschen in ganz Deutschland den Boden, indem sie einen Teebeutel vergraben.

Bei der Mitmach-Aktion "Expedition Erdreich" erkunden Menschen in ganz Deutschland den Boden, indem sie einen Teebeutel vergraben. © Eduard Weigert, NN

Die 57-Jährige legt einen der Beutel auf eine kleine Waage und notiert das Gewicht. Genauso hat sie es auch schon einige Monate vorher gemacht. Das Ergebnis trägt sie in ein Formular ein und schickt es an das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Dort werden die Daten der "Expedition Erdreich" gesammelt. Heike Mierzwa ist eine von mehr als Tausend Teilnehmern in Deutschland, die bei der Aktion mitmachen und ihren Boden untersuchen.

Durch das Gewicht der Teebeutel kann die Nürnbergerin erkennen, wie viele Lebewesen sich in der Gartenerde tummeln. Nach drei Monaten sind die Versuchsobjekte deutlich leichter. Der Teebeutel, den sie gerade untersucht, wiegt jetzt nur noch 1,55 statt 2,36 Gramm. Ein anderer Beutel hat sogar mehr als ein Gramm verloren. "Das zeigt, dass an der einen Stelle mehr Mikroorganismen im Boden leben", erklärt Mierzwa.

Für das Projekt hat sie außerdem die Durchwurzelung ihres Gartens bewertet und die pH-Werte in den Erdlöchern gemessen. "Mir hat das richtig Spaß gemacht." Die 57-Jährige ist eine Naturliebhaberin. Auch deshalb macht sie bei der Aktion des Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin mit.

Flucht durch den Fluss

Heike Mierzwa ist 50 Kilometer südlich der Hauptstadt aufgewachsen, in der DDR. Und auch zu der Stadt, in der das Helmholtz-Institut sitzt, hat sie einen Bezug: In Leipzig hat sie Bibliothekswissenschaften studiert, ehe sie mit 25 Jahren in den Westen geflohen ist. Auf dramatische Weise.

"Von mir aus wäre ich wohl nicht geflüchtet, aber mein Freund wollte weg - und ich wollte nicht ohne ihn sein." Das Paar versucht über Prag nach Westdeutschland zu kommen, doch weil ihr Unterlagen fehlen, muss sie die Flucht abbrechen. Der Schock sitzt tief, auch weil ihr Freund die Reise ohne sie fortsetzt.

Mierzwa ist plötzlich allein und ratlos. "Ich hatte keinen Plan." Bis sie jemanden anspricht, der über Polen raus will aus der DDR. Mierzwa ist dabei. Sie sollen über einen Fluss entkommen. "Wir fuhren nachts mit einem Taxi zu einer Bushaltestelle vor einem Grenzort und haben uns im Wald versteckt", erzählt Mierzwa. "Ich saß dort und hab mich gefragt: Was mache ich hier eigentlich?" Früh am Morgen erreichen sie und ihre Begleiter den Fluss. Nun zögert Heike Mierzwa nicht mehr und stürzt sich ins Wasser. Sie schwimmt in die Freiheit. Am zurückliegenden Ufer tauchen Soldaten auf, doch sie schießen nicht.

Viel über Menschen gelernt

Dass nur zwei Monate später die Mauer tatsächlich geöffnet wird, stört Mierzwa auch im Rückblick nicht. Die Flucht hat sie geprägt, vor allem die Unterstützung der polnischen Fluchthelfer, die sie quer durch das Land bis in die Botschaft nach Warschau bringen. "Sie haben ihre eigene Freiheit für unsere aufs Spiel gesetzt", sagt Mierzwa. Das beeindruckt sie. Das habe ihr das ganze Leben geholfen, das Positive im Menschen zu sehen.

Sie kommt in den Westen. Über Hannover und München landet Mierzwa in Nürnberg. "Ich fand die Stadt von Anfang an wunderschön." Außerdem trifft sie hier ihren früheren Gesangslehrer aus Leipzig. Auch das ist ein Grund, weshalb Heike Mierzwa ihren Job in einer Bibliothek aufgibt, um "einfach nur schöne Dinge zu machen". In ihrem Fall: Musik.

Seitdem singt sie in zwei Bands, allerdings haben die im Moment pandemiebedingt "überhaupt keine Auftritte". Aber schon vorher ist die Lage schwierig, "weil es immer weniger Orte gibt, an denen man auftreten kann". Mehrere Kneipen mit Klavier hätten jüngst dichtgemacht. Mierzwa nutzt die Zeit, um weitere Kurzgeschichten zu schreiben, die sie immer wieder bei Lesungen präsentiert.

Das Duo Tikko Tikko harmoniert prächtig: Heike Mierzwa mit ihrer rauchzarten Stimme und Ulrich Neidiger als eleganter Pianist.

Das Duo Tikko Tikko harmoniert prächtig: Heike Mierzwa mit ihrer rauchzarten Stimme und Ulrich Neidiger als eleganter Pianist. © Bernd Mierzwa, NN

Aus der Ruhe bringen lässt sich Heike Mierzwa jedenfalls nicht. Sie tut, was sie liebt. Wenn sie singt, nimmt sie die Zuhörer mit auf eine Reise durch den Kontinent. "Ich fühle mich voll als Europäerin", sagt sie. Mierzwa singt in zehn verschiedenen Sprachen. Und erzählt Geschichten dazu. Manchmal antwortet ihr jemand aus dem Publikum in der Fremdsprache. Schon als Kind haben sie Sprachen fasziniert. "Wenn ich ein Wort gehört habe, musste ich wissen, was es heißt", sagt die Sängerin.

Die Neugierde hat sie sich bis heute erhalten. Egal, ob es um Sprachen geht, oder Musik. Oder um Teebeutel in der Erde. Mierzwas Daten und die der anderen Teilnehmer werden noch bis März ausgewertet.

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