Hennriettes Tagebuch

Hühnerhalter auf Zeit: Wenn das Leihhuhn Tacheles redet

Jürgen Eisenbrand

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6.4.2022, 14:58 Uhr
Große Freude bei der "Magd" Doris: Hennriette hat ihr erstes Ei gelegt. Da kommen vielleich tnoch mehr.

© Jürgen Eisenbrand, NN Große Freude bei der "Magd" Doris: Hennriette hat ihr erstes Ei gelegt. Da kommen vielleich tnoch mehr.

Als erstes muss ich mal mit einem scheinbar unausrottbaren Missverständnis aufräumen: Mein Name ist nicht Henriette, wie das bei euch Menschen offenbar die übliche Schreibweise ist. Sondern Hennriette, mit zwei „n“ vor dem „riette“. Henn, Sie wissen schon: Henne – Henn-riette! Hammer-Wortspiel, oder? Ach, Sie haben es nicht so mit Wortspielen? Und glauben auch nicht, dass Hühner sowas schätzen? Weil Sie Hühner nur in gebratenem Zustand schätzen? Na, da haben Sie sich aber verschätzt...

Samstagfrüh ging es für uns vier also wieder mal auf Tour: von Dornhausen nach Weißenburg, schön bequem in der Transportbox im Laderaum des Kombis, unser Bungalow hinten im Hänger.

Eklig kalte Substanz

Dort angekommen: Schock! Schneefall ohne Ende, bis zum Bauch standen wir in dieser eklig kalten Substanz, deren Sinn wir Hühner mit unserem Spatzenhirn einfach nicht verstehen können. Jedenfalls wollten die anderen drei gar nicht raus aus der Box, wieder mal musste ich vorangehen. Und kaum war ich draußen: eiskalte Füße, Gänsehaut unterm Hühnergefieder, die Stimmung wie die Temperatur: am Gefrierpunkt.

Immerhin: Ein paar Quadratmeter Wiese hatte unser neues Personal geräumt, sodass wir ein paar frische Vitamine zu uns nehmen konnten, die Futterbox war auch voll. Wenigstens die Grundversorgung stimmt. Aber jetzt muss ich los, der Bauch drückt. Wahrscheinlich kommt ein Ei. Tschüß, bis morgen!

Der 2. Tag

Gefiederte Gartengäste: Hennriettes drei Kolleginnen streifen durch den Schnee, die "Chefin" legt gerade ein Ei im Hühnerhaus.

Gefiederte Gartengäste: Hennriettes drei Kolleginnen streifen durch den Schnee, die "Chefin" legt gerade ein Ei im Hühnerhaus. © Jürgen Eisenbrand, NN

Oh Mann, was war das gestern für ein Bohei mit dem Ei! Kaum war es gelegt, kam unsere neue Stallmagd und hat es aus dem Strohnest geholt. Dabei grinste sie, als ob Weihnachten wäre, und hielt es ihrem Kollegen, offenbar der Knecht, triumphierend vor die Nase, während der mit dem Smartphone ein Foto schoss.

Und sie freute sich lauthals, als hätte ich ein Goldnugget geschi..., äh gelegt. Wenn ich gewusst hätte, wie emotional ihr Menschen auf so eine simple Sache wie eine Eiablage reagiert, hätte ich mich noch ein wenig mehr angestrengt. Vielleicht hätte ich es dann geschafft, dem Ding noch eine rote Geschenkschleife zu verpassen.

Nur Schalen

Obwohl: Verdient wäre die nicht gewesen. Denn heute Vormittag kam die Magd – grinsend wie immer – auf unser Gehege zu, und es sah so aus, als hätte sie eine gewaltige Portion Gemüsereste dabei. Wir also nix wie hin an den Zaun – aber dann: ein paar Kartoffel- und Karottenschalen, das war’s. Da ist noch reichlich Luft nach oben, finde ich. Na ja, vielleicht morgen. Tschüß, bis dahin.

Der 3. Tag

Wir sind doch keine Polarhühner: Gasthuhn Hennriette ist es derzeit entschieden zu kalt.   

Wir sind doch keine Polarhühner: Gasthuhn Hennriette ist es derzeit entschieden zu kalt.   © Jürgen Eisenbrand, NN

Oh Mann, heute Nacht hab ich wirklich kein Hühnerauge zugemacht! Was da im Garten unseres – nun schon nicht mehr ganz so – neuen – Personals abgeht, ist wirklich die Hölle. Anfangs war’s noch ganz okay: Wie immer haben wir uns so zu Sonnenuntergang – derzeit ist das kurz vor Acht, also rechtzeitig vor dem „Tatort“, den ihr Menschen am Sonntagabend so gerne glotzt – in unsere Villa zurückgezogen. „Mit den Hühnern schlafen gehen“, nennt ihr das, meist mit einem spöttischen Unterton.

Aber während ihr euch den Abend und die halbe Nacht mit „Tatort“, „Trucker Babes“, Tagesthemen und „Ruf! Mich! An!-Schmuddelkram um die Ohren schlagt und am nächsten Morgen ausseht wie ein ungemachtes Bett, sind wir normalerweise wunderbar ausgeschlafen und putzmunter. Denn wir wissen: Der frühe Vogel fängt den Wurm!

Donner auf der Straße

Aber diesmal war alles anders: Kaum war es 22 Uhr, fing es draußen auf der großen Straße an zu donnern, und ein Lkw nach dem anderen schoss an unserem nächtlichen Domizil vorbei: Hermes, DHL, UPS, TNT, FedEx und wie die alle heißen. Vollgestopft mit all dem Zeug, das ihr bei Amazon und Co. kauft – und zu 80 Prozent wieder zurückschickt –, während eure schönen Geschäfte in den Innenstädten wegen ausbleibender Kunden ums Überleben kämpfen. Und das allzu oft vergeblich.

Ich kapier euch wirklich nicht, ihr selbst ernannte „Krone der Schöpfung“. Aber ich bin ja auch nur das sprichwörtliche „dumme Huhn“. Glaubt ihr jedenfalls...

Tschüß, bis morgen!

Der 4. Tag

Langsam taut der Boden auf: Das Hühnerquartett kann sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Scharren und Picken, hingeben.

Langsam taut der Boden auf: Das Hühnerquartett kann sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Scharren und Picken, hingeben. © Jürgen Eisenbrand, NN

Dass Tiere vom Menschen als Helfer bei der Arbeit ge- und missbraucht werden, ist ja altbekannt: Ochsen, die vor den Pflug gespannt werden, Pferde, die Kutschen ziehen oder Bäume aus dem Wald zerren müssen, Tauben, die Briefbotschaften überbringen. Oder Hunde, die angeschossenes Wild aufspüren und Schafe bewachen sollen. Seit Jahrtausenden verrichtete Tätigkeiten, über die wir uns nicht beschweren wollen. Von uns Hühnern wird normalerweise lediglich erwartet, dass wir entweder fleißig Eier legen – oder ebenso fleißig Gewicht ansetzen, damit der Mensch wahlweise ein Omelett oder ein Brathuhn verspeisen kann. Also keine harte körperliche Arbeit! Aber was meinen drei Kolleginnen und mir derzeit abverlangt wird, das ist pure Schwerstarbeit, die nicht in unserem Arbeitsvertrag steht. Und das unter Extrembedingungen!

Keine Polarhühner

Denn: Es ist schrecklich kalt; saukalt, würdet ihr Menschen wohl sagen. Aber unter uns Nutztieren pflegen wir eine sensiblere Sprache.Wie gesagt: eisig kalt, minus 8 Grad letzte Nacht, die Krallen sind steif und frieren dir fast an die Sitzstange fest. Und dann gehst du morgens raus, um deiner hühnergemäßen Lieblingsbeschäftigung nachzugehen – scharren und picken, scharren und picken usw. Und du trifft auf einen steinharten, moosverfilzten Bodenbelag, der mit einem anständigen Scharr-und-Pick-Rasen so viel zu tun hat wie eine lauwarm-vollfette Münchner Weiß- mit einer würzig-röschen fränkischen Bratwurst. Hab ich mir jedenfalls sagen lassen.

Ich lege hiermit schärfsten Protest gegen diesen Missstand ein. Wir sind doch keine Polarhühner! Und lebende Vertikutierer sind wir auch nicht!

So, mal sehen, ob’s was nützt. Ich halt euch auf dem Laufenden.

Tschüß, bis morgen.

Der 5. Tag

"Magd" Doris serviert ihren Gästen endlich anständige Leckerbissen, viel Freude haben Hennriette und ihre Kolleginnen am Getreide, das sie direkt aus dem Becher picken.

"Magd" Doris serviert ihren Gästen endlich anständige Leckerbissen, viel Freude haben Hennriette und ihre Kolleginnen am Getreide, das sie direkt aus dem Becher picken. © Jürgen Eisenbrand, NN

Gestern habe ich mich ja massiv beschwert darüber, dass wir von unseren Gastgebern als „lebende Vertikutierer“ ihres moosverfilzten – soll man wirklich sagen: Rasens – missbraucht werden. Heute muss ich sagen: Vielleicht war ich ein wenig zu heftig, denn: Es ist nicht alles schlecht. Inzwischen begreifen nämlich unsere Wirtsleute, bei denen wir eine Woche 5-Sterne-Vollpension gebucht haben, langsam, was anspruchsvolle Hühner wie wir vier darunter verstehen: exakte Pünktlichkeit beim abendlichen Ver- und morgendlichen Aufschließen unserer transportablen Villa, täglich frisches Quellwasser, ein stets gut gefüllter Futterschacht mit unserer Lieblings-Getreidemischung – und dazwischen immer mal wieder feine Häppchen zum Genießen.

Wie im Schlaraffenland

Und so fliegen jetzt in schöner Regelmäßigkeit frische, knackige Salatblätter über unseren transportablen Zaun, gefolgt von mundgerecht aufgeschnittenen Tomatenscheiben, zarten Wirsingblättern und saftigen Gurkenschalen. Das ist auch für Feinschmecker wie uns ganz in Ordnung. Zumal es als Ergänzung immer mal wieder eingeweichte Brotstücke gibt, auf die wir ganz besonders scharf sind. Und diese komisch-sauren Apfelstücke und laschen Karottenschalen, die wir von Anfang an kaum eines Blickes gewürdigt oder gar gepickt haben, sind endlich aus unserem Vorgarten verschwunden.

Ganz besonders schätzen wir es freilich, dass die Pensionswirtin uns am Morgen, wenn sie die Futterbox auffüllt, unser Gourmet-Getreide direkt an den Schnabel serviert. Das spart uns den umständlichen Weg ins Haus, und nebenbei, so habe ich den Eindruck, machen wir der Wirtin und ihrem Mann, der sich an dem Anblick gar nicht sattfotografieren kann, offenbar eine Riesenfreude. Ihr Menschen seit ja so leicht um die Kralle zu wickeln . . .

So, ich muss los, es gibt wieder frisches Gemüse!

Der sechste Tag

Gekochte Kartoffeln und frische Trauben vom Porzellanteller: Hennriette & Co. geht's gut, anders als Millionen ihrer Artgenossen.   

Gekochte Kartoffeln und frische Trauben vom Porzellanteller: Hennriette & Co. geht's gut, anders als Millionen ihrer Artgenossen.   © Doris Eisenbrand, NN

Es ist unschwer zu erkennen: das Osterfest naht. Und da werdet ihr Menschen ja schier verrückt nach Eiern: Supermarktregale sind – nicht nur in diesem Jahr – nahezu ausverkauft, zentnerweise kauft ihr Färbemittel, um unsere in makellos-klassischem Weiß oder Beige gehaltenen Kalk-Kunstwerke in den eigenartigsten Farbtönen zu tünchen, nachdem ihr sie zuvor derart steinhart gekocht habt, dass man fast daran ersticken könnte. Aber gut, ist halt ein alter Brauch, habt ihr uns eure Ungeduld erklärt habt, mit der ihr auf die Eier wartet, die ihr uns am liebsten gleich unterm Hühnerpopo rausziehen möchtet. Auch ein alter Brauch scheint es wohl zu sein, an Ostern und anderen Festtagen sich mit besonders großen Portionen unserer Artgenossen und anderer sogenannter „Fleischlieferanten“ vollzustopfen. Wobei es offenbar maßgeblich darauf ankommt, diese möglichst billig zu erstehen.

Jedenfalls habe ich das einem Prospekt entnommen, mit dem unsere Wirtin – pietätloserweise, würde ich sagen – unseren Stall ausgelegt hat: Für 1,29 Euro wurden dort 10 Eier angepriesen, gefärbt kosten sechs Stück nur 10 Cent mehr; ein Kilo (!) unserer straffen Schenkel werden für 2,99 Euro verramscht, Kassler von unseren rosigen Kumpels aus dem Schweinestall für 54 Cent je 100 Gramm.

Osterhase und Storch

Während ihr gleichzeitig – das stand in einem anderen Prospekt – für edle Duftwässerchen locker 80 Euro je 100 Milliliter ausgebt und für dieselbe Menge Schmotze zum Glätten der Gesichtshaut gar 220 Euro abdrückt. Seitdem ich das gesehen habe, geht mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Glaubt ihr wirklich, dass ihr für 3 Euro tiergerecht und fair erzeugte Hühnerbeine bekommt? Und dass die 54-Cent-Schweine ein schönes Leben im Stroh hatten? Oder Kühe, die 79-Cent-Milch liefern, ihren Sommer auf einer duftenden Almwiese verbringen?

Wenn ja, dann glaubt ihr – mit Verlaub – sicher auch an den Osterhasen, der nächste Woche angeblich Nester im Garten mit quietschbunten Eiern füllt. Und dass das Christkind an Weihnachten die Geschenke bringt. Und unser langbeiniger Verwandter, der Storch, die Babys. Da lachen ja die Hühner!

Der letzte Tag

Ein gut genährtes Hühnerquartett nimmt Abschied: Hennriette und ihre Kolleginnen.

Ein gut genährtes Hühnerquartett nimmt Abschied: Hennriette und ihre Kolleginnen. © Jürgen Eisenbrand, NN

Gestern war unser letzter Tag in Weißenburg, und ehrlich gesagt: Ich bin ganz froh, dass ich hier wegkomme. Zum einen ist unser 25-Quadratmeter-Moosrasenstück inzwischen ganz gut umgegraben, frisches Grün sprießt hier kaum noch. Zum anderen – ich hab’s ja Anfang der Woche schon erwähnt – ist es hier an dieser berühmt-berüchtigten „Hörnlein-Kreuzung“ wirklich sehr, sehr laut. Da freuen wir uns alle schon mächtig auf unser beschauliches Dornhausen, wo wir in großer Ruhe unseren Blick über das weite, beschauliche Altmühltal schweifen lassen können. Wenn wir vor lauter Scharren und Picken mal Zeit dafür haben.

Zum Dritten: Die Verpflegung ist hier zwar wirklich super, aber sie schlägt auch ganz schön auf die Hüften. Wir schaffen es ja kaum noch hinauf aufs Dach unserer Villa, und wenn wir noch ein bisschen so weitermachen, passen wir eines abends nicht mehr durch unsere Haustür. Und zu guter Letzt wird mir unser Pensionswirt langsam etwas unheimlich. Er glaubt zwar, ich merke das nicht, aber eine Führungskraft wie ich, die ein erfolgreiches kleines Familienunternehmen leitet, hat für solch unterschwellige Dinge einfach ein Sensorium.

Verdächtige Blicke

Und deshalb nehme ich sehr wohl wahr, dass sich der Blick, mit dem er und betrachtet, im Laufe der Woche gewandelt hat. Anfangs war er noch richtig entzückt über unsere – angebliche – Putzigkeit. Später immerhin noch ehrlich interessiert an unserem Treiben. Aber seit ein, zwei Tagen stehen ihm höchstgradig unangemessene Fragen auf die Stirn geschrieben: Wie die wohl schmecken? Gegrillt? Als Coq au vin? Oder kann man sie nur noch als Frikassee essen? Und welchen Wein trinkt man dann am besten dazu?

Sie können mir glauben: Das ist, wenn man selbst das Objekt solcher Überlegungen ist, ausgesprochen unangenehm. Zumal der Mann so aussieht, als sei er weder ein Kostverächter, noch ein Veganer.

Und deshalb freue ich mich auf das Ende unseres einwöchigen Urlaubs hier. Und auch darauf, demnächst wieder mal in Schulen oder Kindergärten tätig zu sein: Die Kleinen dort sind so begeisterungsfähig wie kein anderes Publikum, freuen sich jeden Tag tierisch auf uns – und denken nicht im leisesten daran, uns zu verzehren.

Tschüß, macht’s gut.

Eure Hennriette