"Halefs Zeitraffer"

Der "KKW-Song" und ein klampfender Lehrer: 1977 steckte das Bardentreffen noch in den Kinderschuhen

24.7.2022, 05:55 Uhr
Das 2. Bardentreffen anno 1977: Allein etwa 5000 Menschen drängten sich zu Füßen der Kaiserburg auf dem Platz vor dem Tiergärtnertor.

© Friedl Ulrich Das 2. Bardentreffen anno 1977: Allein etwa 5000 Menschen drängten sich zu Füßen der Kaiserburg auf dem Platz vor dem Tiergärtnertor.

Seit all den Jahren geht mir eine Refrain-Zeile nicht aus dem Sinn. Immer wieder summe ich sie vor mich hin: "Gammastrahlen für die Ewigkeit, Gammastrahlen für die Ewigkeit". Gerade ist der Refrain wieder höchst aktuell, denn es wird über die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken diskutiert.

Gehört habe ich die Zeile erstmals im Jahr 1977 – auf dem Nürnberger Bardentreffen. Am Platz vor dem Tiergärtner Tor klampften Anni Becker und ihr Sohn Jockel aus der Pfalz den "KKW-Song". Eine eingängige Melodie, eine markante Warnung vor der Strahlenbelastung nach einem GAU. Den hat es inzwischen dreimal gegeben. Doch die Menschen genießen ihre Katastrophen-Demenz. Anni Becker ist später immer wieder zum Bardentreffen gekommen. Sie mochte diese Bühne in Nürnberg so sehr, dass sie sich einmal sogar für das Amt der Kulturreferentin in der Stadt beworben hat.

Sie war ja nicht nur Liedermacherin sondern Lehrerin, Religionspädagogin, Schriftstellerin. Chancen auf das Kulturreferat hatte sie keine. Seit 2009 ist Anni Becker tot. Ihr Sohn, mit dem sie als Duo aufgetreten war, ist schon 1985 bei einem Unfall gestorben. Die Arbeit der Zeit an den Barden.

Eine Ära des Singens

Ich habe das Festival der Liedermacher 1977 erstmals erlebt. Tatsächlich war das schon Folge Nummer zwei, denn die Idee zur Veranstaltung war der Planungsschmiede für das Hans-Sachs-Jahr 1976 entsprungen. Ganz konsequent hatten sich die Verantwortlichen von Kultur und Fremdenverkehr daran erinnert, dass der Schuster und Dichter ja auch noch "Meistersinger" gewesen war. Und die 1970er Jahre waren in der Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1968 auch eine Ära des Singens. "Protestsongs" hatten neben Rock und Pop Konjunktur. Die Gitarre erlebte eine Blütezeit. Manche Interpreten griffen auf vergessene Instrumente des Mittelalters und der Renaissance zurück. Aus Bänkelsängern wurden Liedermacher.

Also luden die Macher des Sachs-Jubiläums (auf Einflüsterung sommerloch-müder Journalisten, wie die Sage geht) alle möglichen (Amateur-)Sänger mit eigenen Kompositionen und ausschließlich deutschsprachigen Texten nach Nürnberg ein (die Kostenübernahme der Kommune ist bis heute schöne Tradition) und veranstalteten am Tiergärtnertor einen "Meistersingerwettbewerb". Gewonnen hat ihn1976 der Lehramtsstudent Klaus-Gerhard Rau aus dem Schwarzwald.

Eine hellsichtige Einschätzung zum Ereignis hat Kollege Horst Mayer in den Nürnberger Nachrichten geliefert. Er schrieb: "Ein 'unwahrscheinliches Echo' hat das erste Nürnberger Bardentreffen gefunden, das in seiner Art bisher einzigartig ist und wegen des großen Erfolges womöglich alle Jahre ausgetragen werden soll. Mehr als 20 000 Besucher lauschten den Songs von etwa 50 gemeldeten und mitunter sogar spontan auftretenden Liedermachern aus dem ganzen Bundesgebiet." Das mit der Wiederholung hat Mayer richtig erahnt. Denn wenn keine Seuche für Lockdown sorgte, begannen seit 1976 die Sommerferien in Nürnberg mit den Barden. Ich aber war in diesem Jahr zum fraglichen Zeitpunkt in Urlaub gefahren.

So erlebte ich mein erstes Festival eben 1977. Erlebte eine damals noch ungewohnt wuselige Innenstadt. Überall Sängerinnen und Sänger, Menschen mit Meinungen in Gitarrensaiten. Sie musizierten auf Brücken und Plätzen. Ja, es gab die Hauptspielstätten: im Altstadthof, am Köpfleinsberg, in der Unteren Talgasse. Es gab sogar Zufluchtsorte für den Regenfall. Ich erinnere mich an die U-Bahn-Station Weißer Turm, die damals noch gar nicht von Zügen angefahren wurde. Vielleicht kam deren Kachel-Charme auch erst Jahre später über uns. Jedenfalls gab es an diesen Spielstätten ein festes Programm, eine ausgedruckte Auftrittsfolge. Aber das Besondere waren die spontanen Konzerte irgendwo auf den Kopfsteinen. Die Ansammlungen freundlicher Zuhörer. Freundliche Nürnberger bei ungewohnten Darbietungen! Das hat das Bardentreffen schon bei seiner zweiten Auflage geschafft. Es wurde zum Volksfest – und ist es geblieben.

Kein Konkurrenzkampf

Als Journalist hatte ich das Privileg, auf den Tucherbus steigen zu dürfen. Auf dieses Gefährt mit Aussichtsplattform oben und Ausschank im Innenbereich, das auch die Barden anlässlich ihrer Auftritte entern konnten. Er stand am Tiergärtnertor beim Hauptkonzert, 1977 immer noch Wettbewerb, der dann aber bald abgeschafft wurde. Das haben die Sänger selbst veranlasst. Sie wollten ein Fest und keinen Konkurrenzkampf.

Auf dem Tucherbus kam es für mich zu eindrücklichen Begegnungen: 1986 mit Wolf Biermann, diesen großen Liedermacher, der eigentlich wenig Lust hatte auf seine Darbietung im Burggraben und sich dann doch Fingerkuppen und Stimmbänder rau rieb, weil Singen nun mal Leben sei, wie er mir erzählte. Oder 1981 mit dem polnischen KZ-Überlebenden Aleksander Kulisievicz, der scheu auf die Menge der Zuschauer hinunter schaute, bevor er mit mächtiger und trotziger Stimme seine erlebten und erlittenen Lieder sang.

1977 gab es die bekannten Namen noch nicht. Da war alles unprätentiös, wirkte immer noch ziemlich improvisiert. Billig sollte es auch sein. Der Event kostete die Stadt keine 10 000 DM (5000 Euro). Die "Stars" bekamen Reisekosten und eine schlichte Unterkunft finanziert, dazu Essensgutscheine für Bratwürste. Die Gitarren-Heroen der frühen Jahre verdienten sich ein paar "Kröten", indem sie nachts durch die Burgkneipen tingelten.

Damals war es niedlich

Der Etat der späteren Jahre ist auf das Vielfache gewachsen. Der Magnetismus der Veranstaltung wurde erkannt. Die Stadt investierte. Das Festival polierte ihr Image. Es wurde zum Tourismus-Magneten. Und wenn schon am Anfang erstaunlich viel Publikum strömte, so lief die Stadt in den letzten Jahren so toll und voll, dass der Zugang zu den Bühnen manchmal wehtat. Ist da Zuhören wichtig oder dabei sein?

Ein Mann mit Gitarre, ein schummriger Keller, junges Publikum in 70er Jahre Mode: Bei der Geburtsstunde 1976 wurde im Schmelztiegel musiziert.

Ein Mann mit Gitarre, ein schummriger Keller, junges Publikum in 70er Jahre Mode: Bei der Geburtsstunde 1976 wurde im Schmelztiegel musiziert. © Roel Loopers

Geradezu niedlich war es damals. Die Namen von 1977 sind fast alle verblasst. Der von Vorjahressieger Klaus-Gerhard Rau auch, der wiederum antrat. Er hat keine Song-Karriere gemacht sondern ist Biologielehrer geworden. Die Lokal-Matadoren? Günter Stössel hatte sich 1976 geärgert, dass nicht er den Preis gewonnen hatte. Jetzt war er neuerlich dabei. Und danach noch häufig, mindestens zehnmal.

Daneben Maximilian Kerner, der Buchhändler mit der Stimme der durchzechten Nächte. Er war damals Publikumsliebling mit seinem Song vom "Hinterzimmer": "Vorne da sitzt ihr und trinkt euer Bier / Schmaucht euer Pfeifchen und seid auch dafür / Dass die Gewerkschaft mal endlich was macht -/ In Kniebundhosen und Bauerntracht / Und die Welt ist in Ordnung im Maßkrugzimmer / Und ihr seht nicht die andern im Hinterzimmer…". Max ist 2005 gestorben. Aber da hat er nur noch Lieder auf den Club und die Kniidla geschrieben. Einer der 1977 in der Knospe war, hat es immerhin zu Kabarett-Ruhm gebracht: Holger Paetz, lange Zeit der Hauptautor für das Singspiel beim Starkbieranstich auf dem Münchner Nockherberg.

Was ist nach diesem Rückblick denn erstaunlicher: die Wandlungen des Festivals oder sein Beharrungsvermögen? Die Veränderungen kann man nachvollziehen: Die Amateure wurden von den Profis abgelöst, die akustische Gitarre wich der elektrischen. Über beide Schritte wurde heftig gestritten. Doch Wachstum verlangt Vielfalt. Hinter dem Mikrofon vermehrte sich der Barde. Die Gruppen kamen; inzwischen reisen orchestrale Formationen an. Der nächste Streitpunkt: Sollte Nürnberg ein Ort für die Namenlosen bleiben, für Newcomer wie 1982 einen gewissen Heinz Rudolf Kunze, für die Entdeckungen? Oder sollte die Sanges-Prominenz geladen werden.

Die Prominenz war unvermeidlich. Außer Wolf Biermann kamen Hannes Wader, Konstantin Wecker, Barbara Thalheim, Ringsgwandl und viele andere. Und schließlich öffnete sich das Treffen der Musik aus der ganzen Welt bis hinein in die tiefen Schluchten von Nepal. Aus dem Barden wurde der Rocker, den der Folk bremste. Der wurde mit der Exotik aller Klänge aus allen Instrumenten bereichert. Die Gesichter zeigen nun die Farben des Globus.

Eines hat sich nicht verändert

Wandel auch bei den Spielorten. Am Tiergärtnertor wird nicht mehr gesungen, auch nicht am Köpfleinsberg oder im schönen Hof der Unteren Talgasse, nicht einmal im Burggraben, der doch eine Zeitlang atmosphärisches Zentrum des Festivals war. Am Hauptmarkt haben die Nürnberger schon immer ihre Hochämter gefeiert (auch die düsteren). Deswegen ist das Zentrum dorthin gewandert. Doch der Platz hinter der Lorenzkirche war von Anfang an dabei. Wenigstens einen vertrauten Anlaufpunkt braucht jeder Franke.

Und eines hat sich eben nicht verändert: das Volksfest mit Musik. Das Fest, das die Stadt den Bürgern schenkt. Noch immer kostet dieses Wochenende der Wanderungen (bzw. des haltlosen Gedränges) von Musik zu Musik den Besucher nichts außer seine Steuergelder. So kann er es sich leisten, nicht nur mit den Ohren zu schlemmen sondern mit dem ganzen Leib. Die Bescheidenheit der Bratwursttage ist vorbei. Inzwischen wird kulinarische Weltmusik verlangt. Und geboten.

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