So nah, doch wir kennen es kaum

Unterschätzter Nachbar: Darum lohnt sich ein Besuch in Stuttgart, Deutschlands sportlichster Stadt

Robert Gerner

Schwabacher Tagblatt

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16.1.2024, 09:00 Uhr
Schon beim Weihnachtsmarkt machte Stuttgart mit einem beleuchteten Fußballer Werbung für die Fußball-EM 2024.

© Robert Gerner, NN Schon beim Weihnachtsmarkt machte Stuttgart mit einem beleuchteten Fußballer Werbung für die Fußball-EM 2024.

Als sich Jan Kristiansen an jenem 26. Mai 2007 im Berliner Olympiastadion in der 109. Minute des DFB-Pokalendspiels aus 30 Metern ein Herz fasst und abzieht, da beginnt Timo Hildebrand zu fliegen. Er reckt sich und streckt sich, doch der Torhüter des VfB Stuttgart ist machtlos: 3:2 für den 1. FC Nürnberg, der erste nationale Titel seit 39 Jahren für den Club, der an diesem Abend endlich mal kein Depp ist.

Hildebrand kann sich damit trösten, dass er und sein VfB sich eine Woche zuvor die Deutsche Meisterschaft gesichert haben. Aber das Double wäre natürlich ein einmaliges Ereignis in der Historie des 1893 gegründeten Vereins für Bewegungsspiele gewesen.

Er fliegt noch immer - zumindest auf dem Foto

Fast 17 Jahre später fliegt Timo Hildebrand immer noch. Im Bauch des mächtigen Fußballstadions in Bad Cannstatt, ab Juni 2024 eine der zehn Gastgeber-Arenen für die Fußball-EM, haben sie Poster hingehängt von der „Jahrhundertelf“ des VfB.

Krassimir Balakov, ein Teil des „magischen Dreiecks“, wurde in diese Stuttgarter Wunderelf hineingewählt, der schussstarke Karl „Knallgöwer“ Allgöwer und der schlacksige Rackerer Guido Buchwald. Der später den Spitznamen „Diego“ erhalten hat, weil er im WM-Finale 1990 den unvergessenen Diego Armando Maradonna so in den Schatten stellte, dass dieser 90 Minuten lang nicht mehr zu sehen war. Ja, und ganz vorne in der Reihe, da fliegt eben Timo Hildebrand.

Stuttgart vom Riesenrad aus gesehen. Vorne das Schloss, in dem einige Ministerium untergebracht sind, dahinter der Landtag und das Opernhaus.

Stuttgart vom Riesenrad aus gesehen. Vorne das Schloss, in dem einige Ministerium untergebracht sind, dahinter der Landtag und das Opernhaus. © Robert Gerner, NN

Uwe Spinder kann viele Geschichten von den VfB-Legenden erzählen. Er weiß aber auch über die Fans Bescheid, über das neben dem Stadion liegende Nachwuchsleistungszentrum, über die schicken Logen mit bestem Blick auf den Anstoßpunkt, über die Beschaffenheit des heiligen Rasens. Über die Umkleidekabinen und über den eher trostlosen Tunnel, den die hochbezahlten Profis nehmen müssen, um während der Umbauarbeiten des Stadions in die Arena zu gelangen.

Spinder ist der einzige hauptamtliche Stadionführer durch die moderne MHP-Arena. 1200 Mal hat er schon Gruppen über das Gelände und durch den Sporttempel geführt. Wenn gerade nichts ansteht, feuert er selbst seinen VfB an. Oder er kümmert sich um seinen Zweitjob als Fußball-Kabarettist. Dass er auch darin gut ist – man glaubt es ihm aufs launige Wort.

Eigentlich will zur Fußball-EM die ganze Stadt zum Stadion werden. Die richtige Arena mit gut 55.000 Sitzplätzen gibt es aber in Bad Cannstatt.

Eigentlich will zur Fußball-EM die ganze Stadt zum Stadion werden. Die richtige Arena mit gut 55.000 Sitzplätzen gibt es aber in Bad Cannstatt. © Robert Gerner, NN

Als der 57-Jährige die Ahnengalerie der Jahrhundertelf passiert, bleibt er kurz bei Timo Hildebrand stehen. „Einer der wenigen, die heute nicht mehr so in den Verein eingebunden sind“, erzählt er. Macht aber nix. Wer mit der S-Bahn ein paar Haltestellen weiter fährt, landet in der Stuttgarter City, und von dort ist es nicht mehr weit bis zum „vhy!“, einem hippen veganen Restaurant, das eben jener Timo Hildebrand nach Abschluss seiner Karriere mit einem Geschäftspartner eröffnet hat. Den Ex-Keeper findet man regelmäßig hier. Statt ein Tor zu hüten, begrüßt er Gäste, schleppt schon mal Stühle und Tische herum und gruppiert kurzfristig um.

Fast eine Million Besucher pro Jahr: das Mercedes-Museum.

Fast eine Million Besucher pro Jahr: das Mercedes-Museum. © Robert Gerner, NN

An das Pokalfinale 2007 kann er sich selbstverständlich noch erinnern. „Aber damals haben wir ja nicht nur einmal gegen Nürnberg verloren. Auch in den beiden Liga-Spielen gab es für uns nichts zu holen", erinnert er sich gegenüber dem Besuch aus Franken.

Das Kribbeln wächst vor der EM

Timo Hildebrand hat sich vom Fußball weitgehend emanzipiert. Aber im kommenden Sommer wird auch bei ihm wieder das Kribbeln einsetzen - so wie bei vielen Stuttgartern, die sich spätestens seit der Leichtathltik-WM 1993 in der Sport-Hauptstadt der Republik wähnen. Da war die Schüssel, die damals noch eine Tartanbahn hatte, schon am Vormittag beim Kugelstoßen der Zehnkämpfer ausverkauft. Nur wenige Städte wie Nürnberg haben noch eine Fußball-Arena, die sich auch für Leichtathletik eignet - auch das ist jedoch bald Geschichte.

Weil die 630.000 Einwohner und die Menschen in den 42 Umland-Gemeinden, die zur Metropolregion Stuttgart gehören, so sportverrückt sind, darf man - entsprechendes Wetter vorausgesetzt - auch 2024 launige Wochen beim größten Fußball-Fest des Kontinents erwarten. Immerhin fünf Spiele finden in der Baden-Württembergischen Hauptstadt statt, darunter das zweite Vorrundenspiel der Deutschen gegen Ungarn.

An Karten zu kommen, ist natürlich schwer. Die Nachfrage ist um ein Vielfaches höher als das Angebot. Aber man kann in Stuttgart auch gut dabei sein, ohne gleich mittendrin zu sein. Auf dem Schlossplatz werden mehr als 30.000 Leute beim Public Viewing mitfiebern. In der City dreht sich dann alles um Fußball: „Die ganze Stadt ein Stadion“, lautet einer der Werbesprüche von Stuttgart Marketing.

Als Weinbau-Stadt die Nr. 2 hinter Wien

Tatsächlich gleicht die Topographie der Metropole mit ihrer Kessel-Lage einer Arena. Im Norden, Westen und Süden wird sie begrenzt von steilen Hügeln, die an die Ränge eines Stadions erinnern. Nur dass in den Hügeln altehrwürdige Winzer werkeln. 500 gibt es noch innerhalb der Stadtgrenzen. Das Anbaugebiet erstreckt sich auf 440 Hektar – unter den europäischen Metropolen hat nur Wien noch mehr zu bieten. Die Stuttgarter, ein lebenslustiges Völkchen, feiern das mit einem dreiwöchigen Weindorf im August. Auch während anderer Veranstaltungen wie dem Jazz-Festival herrscht im Stadtzentrum mit seinen hübschen Plätzen Ausnamezustand.

Die Oper ist zudem eines der größten Drei-Sparten-Häuser weltweit. Weltruf genießen vor allem die 70 Ballett-Tänzerinnen und -Tänzer, die für eine Mischung aus Hochleistungssport und Kunst stehen. Ausgebildet wurden sie oft in Stuttgart selbst. Die John-Cranko-Schule, benannt nach einem britischen Choreografen, liegt nur einen Steinwurf entfernt.

Auch hier zieht die Oper um - irgendwann

Zumindest vorerst. Denn wie in Nürnberg hat die Stuttgarter Oper bei Bausubstanz und Technik ihre besten Tage hinter sich. Wie in Nürnberg ist ein Interim gefunden. Aber auch hier kommt man ins Schlucken, wenn man von den Kosten hört: eine Milliarde Euro. Allerdings ein Schnäppchen im Vergleich zu Stuttgart 21, jener zeitweise größten Einzelbaustelle Deutschlands, die Stuttgarts Sackbahnhof zum unterirdischen Durchgangsbahnhof macht. Oberirdisch werden damit 80 Hektar für die Stadtentwicklung frei. Wer noch an einer Führung durch die beeindruckende unterirdische Baustelle teilnehmen will, muss sich aber beeilen. Ende 2025 soll der erste ICE durchbrausen – nach 15 Jahren Planungs- und knapp 15 Jahren Bauzeit.

Stuttgart haben viele dennoch nicht wirklich auf dem Schirm, was schade ist - wer kommt, findet Unterkünfte in von günstig über modern bis gediegen. Wer auf Letzteres schwört, dem könnte es im Waldhotel unweit des Stuttgarter Wahrzeichens, dem Fernsehturm, gefallen. Das ehemalige Haus des CVJM (Christlicher Verein junger Menschen) wurde behutsam und denkmalgerecht ausgebaut. Bloß zwischen Mitte Juni und Mitte Juli könnte es schwer werden, ein Zimmer zu bekommen: Es ist Fußball-EM. Und die Schweizer haben hier, in unmittelbarer Nähe zu den Sportplätzen der Stuttgarter Kickers, schon mal angeklopft - und inzwischen auch gebucht.


Mehr Informationen:
Stuttgart-Marketing GmbH
Telefon: (0711) 22 28-0
E-Mail: info@stuttgart-tourist.de
www.stuttgart-tourist.de
Anreise:
Mit dem Auto über die A6 und die A81 benötigt man für die 210 Kilometer gut zwei Stunden. Fast ebenso schnell geht es mit dem Zug. Von Nürnberg aus gibt es fast stündlich Verbindungen. Stuttgart selbst verfügt über ein exzellentes ÖPNV-Angebot mit S-Bahn, U-Bahn und Bussen.

Beste Reisezeit:
Ganzjährig, viele Open-Air-Angebote und natürlich die EM in der warmen Jahreszeit bzw. ab Juni 2024

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