Nach der Feier ist vor der Feier

75 Jahre Grundgesetz: die schwierigsten Zeiten kommen erst noch

Harald Baumer

Korrespondent Berlin

E-Mail zur Autorenseite

23.5.2024, 13:21 Uhr
Ein schmaler Band mit schwergewichtigem Inhalt: das Grundgesetz

© Hendrik Schmidt/Hendrik Schmidt/dpa Ein schmaler Band mit schwergewichtigem Inhalt: das Grundgesetz

Wenn es um das eigene Staatswesen und dessen Grundlagen geht, dann geben sich die Deutschen gerne spröde - fast schon nach dem fränkischen Motto "nicht geschimpft ist genug gelobt". Insofern war es bemerkenswert, dass das 75-jährige Bestehen des Grundgesetzes dann doch eine gewisse Aufmerksamkeit erzielte. Da scheint offensichtlich ein ganzes Land ausnahmsweise mal stolz gewesen zu sein auf eine Errungenschaft.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lobte als Festredner die Beständigkeit sowie die Knappheit und sprachliche Klarheit der ursprünglich nur als Provisorium gedachten Verfassung. In allen drei Punkten hat er Recht. Wer durch das schmale Büchlein mit den 146 Artikeln blättert, der mag es kaum glauben, dass dieses Werk unseren Staat ein Dreivierteljahrhundert zusammengehalten hat.

Kriege, Migration und Pleiten

Es steht leider zu befürchten, dass dem Grundgesetz die größte Bewährungsprobe erst noch bevorsteht. Deutschland steuert auf wirtschaftliche Krisenzeiten zu, von denen sich viele noch keine Vorstellung machen (wollen). Der Krieg ist bedenklich nahe an uns herangerückt. Zunehmende weltweite Migration stellt verschärft die Frage nach der Zukunft des Asylrechts. Immer wieder verwandeln sich Demokratien in halbautoritäre Systeme. Die christlichen Kirchen als Wertevermittler verlieren zunehmend an Bedeutung.

Die Verfassung alleine wird es nicht richten können, wenn sich nicht genügend Menschen finden, die bereit sind, in ihrem Geiste zu handeln und sie gegebenenfalls zu verteidigen. Justizminister Marco Buschmann forderte zum Jubiläumstag mehr Verfassungspatrioten. Und genau daran wird es sich entscheiden, ob wir 2049 auch noch 100 Jahre Grundgesetz feiern können.

Was zeichnet solche Verfassungspatriot(inn)en aus, die Deutschland dringend braucht? Sie schüren keinen Zweifel an freien und geheimen Wahlen und sind bereit, deren Ausgang zu akzeptieren. Die Wahlsieger von heute wissen, dass sie schon morgen wieder Wahlverlierer sein können und verhalten sich entsprechend. Verfassungspatrioten stürzen sich hitzig in die politische Debatte, betrachten ihr Gegenüber aber nicht als Feind. Sie lassen keinen Zweifel an der Achtung der Menschenwürde aufkommen, die durch nichts ausgehebelt werden kann. Nicht ohne Grund steht sie in Artikel eins - am Beginn des Grundgesetzes.

Am Gartenzaun widersprechen

Ganz konkret bedeutet das: Wenn jemand im Gartenzaungespräch oder am Stammtisch sagt, bestimmte Politiker müssten sich nicht wundern, wenn sie wegen ihrer schlechten Arbeit übel beleidigt oder gar verprügelt würden, dann darf man nicht peinlich berührt weghören. Man muss solchen Verrohungen im Denken entgegentreten, so unangenehm sich das Gespräch auch entwickeln mag. Noch denkt ein großer Teil der Menschen im Lande genau so. Sie müssen sich nur zu Wort melden.

Keine Kommentare