Wie aus einer Science-Fiction-Szenerie

Achtung, in Nürnberg-Boxdorf ist ein Turm gelandet! Die Kirche zum Guten Hirten ist ein Hingucker

14.4.2024, 19:00 Uhr
Wären die biederen Reihenhäuser und der Wohnblock rechts nicht, man könnte diese Ansicht der Kirche zum Guten Hirten von etwa 1968 für eine Science-Fiction-Szenerie halten.

© Paul C. W. Primer (Sammlung Sebastian Gulden), NNZ Wären die biederen Reihenhäuser und der Wohnblock rechts nicht, man könnte diese Ansicht der Kirche zum Guten Hirten von etwa 1968 für eine Science-Fiction-Szenerie halten.

Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne haben es nicht leicht. Ihre klaren, stereometrischen Formen verführen des Volkes Stimme allzu leicht zu geradezu lästerlichen Spitznamen. Ihrer auffälligen Keilform wegen nennen etwa die Kieler ihre 1965 erbaute Universitätskirche durchaus treffend (und mit liebevollem Augenzwinkern) „Gebetsabschussrampe“. Und böse Wiener Zungen nennen die Wotrubakirche auf dem Georgenberg (1976) gerne mal „Ruinenbau“.

Heute verdecken Bäume teilweise den Ausblick über den Boxdorfer Weiher auf die Kirche. Das sieht dafür wesentlich idyllischer aus als anno dazumal.

Heute verdecken Bäume teilweise den Ausblick über den Boxdorfer Weiher auf die Kirche. Das sieht dafür wesentlich idyllischer aus als anno dazumal. © Sebastian Gulden, NNZ

Sakralbauten dieser Ära gibt es auch in Nürnberg, und einer davon verleitet zu liebevoller Frotzelei: die Kirche zum Guten Hirten in Boxdorf. Die nämlich gleicht mit ihrem pyramidenförmigen Glockenturm und dem Kirchengebäude mit Pultdach, in das ein Atrium eingeschnitten ist, einem geöffneten Nähkästchen mit in den Erdboden gesteckter Nadel.

Der Zugang zur Kirche führt über das Atrium. Dessen Portal ziert ein Reliefband, das die „Zwölf Tore des Himmlischen Jerusalem“ in stilisierter Form darstellt. 

Der Zugang zur Kirche führt über das Atrium. Dessen Portal ziert ein Reliefband, das die „Zwölf Tore des Himmlischen Jerusalem“ in stilisierter Form darstellt.  © Sebastian Gulden, NNZ

Pfarrhaus und Pfarrheim stehen leicht abgerückt weiter östlich und zitieren in Material und Dachform den Duktus des Kirchengebäudes. Erbaut wurde das Gotteshaus 1967 bis 1968 nach Planung des Nürnberger Architekten Kurt Engelhardt auf einer grünen Parkfläche im Herzen des neuen Ortsteils rund um den Boxdorfer Weiher (der größte einer Dreierkette – die anderen hat man zugeschüttet).

Der Hirte ist kein Heiliger

Dabei ist der „Gute Hirte“ freilich kein Heiliger – wir sprechen hier über eine evangelisch-lutherische Kirche –, sondern eine Bezeichnung für Jesus Christus. Am Sonntag, 14. April, begehen die Christen auch in Boxdorf den Guthirtensonntag, der die Gläubigen gleich einer Schafherde beschützt und ins Heil führt.

So lästerlich wäre ein solcher Scherzname nicht, würdigt er doch eine der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten des Entwurfes: die skulpturale Anmutung der Gesamtanlage, die es eben jener Reduzierung der Baukörper auf einfache, leicht zu erkennende und somit gut in Erinnerung bleibende Formen verdankt. Nicht umsonst verwendet die Pfarrgemeinde die stilisierte Ansicht von Turm und Kirchengebäude als Logo.

Die Spitze war ein alter Hut

Engelhardts origineller Entwurf in allen Ehren – die Idee, den Kirchturm auf seine Spitze zu reduzieren, war damals ein alter Hut. Von Helgoland (St. Nikolai, 1959) bis Wegscheid (St. Johannes der Täufer, 1969) ragen die steilen Pyramiden aus der Landschaft. Und doch, gut kopiert ist bekanntlich besser als schlecht selbst gemacht. Und so ist die Boxdorfer Kirche ein wahrer Hingucker und ein ausgezeichnet erhaltenes Beispiel für die Kirchenbaukunst unserer jüngeren Vergangenheit.

Beeindruckend trotz bescheidener Maße

Trotz seiner eher bescheidenen Maße beeindruckt das Kirchengebäude durch seine stereometrische Form und die absichtlich lochartig eingeschnittenen Maueröffnungen. Das nach Vorbild frühchristlicher Kirchen gestaltete Atrium bildet den umfriedeten Zugang zu Kirche, Sakristei und Jugendräumen. Außen wie innen kontrastieren die Materialien: Sichtklinker, Beton, Zinkblech und Echtholz.

Das Innere der Kirche ist von heimeliger Wirkung, auch und gerade wegen des warmen Tons der Mauerziegel und der geschickten Führung des seitlich einströmenden Lichts. 

Das Innere der Kirche ist von heimeliger Wirkung, auch und gerade wegen des warmen Tons der Mauerziegel und der geschickten Führung des seitlich einströmenden Lichts.  © Sebastian Gulden, NNZ

Das Spiel mit dem Licht, das den schlichten Kirchenraum geradezu mystisch wirken lässt, ist ein typischer Zug der sakralen Baukunst der 1950er bis 1970er Jahre und findet sich auch in dem heimeligen Kirchenraum zu Boxdorf. Ein Wandkreuz aus Metall von Hermann Jünger, eine Figur des Guten Hirten und die Malereien an der Empore von Hubert Distler gehören zu den wenigen aufwendiger gestalteten Stücken der Ausstattung, die in ihrer Schlichtheit vollauf zu Engelhardts Architektur passt.

Wer möchte, ist eingeladen

Für Freunde moderner Kirchenbaukunst besonders erfreulich: Sie können sich den Bau außen und innen ansehen. Denn die Boxdorfer öffnen ihre Kirche auch außerhalb des Gottesdienstes für Gäste. Sie können sie täglich von 9 bis 17 Uhr besuchen, ob nun zum Gebet oder zur Besichtigung.


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